Südostasiatische Weihnachten

Dezember 2008.


Südostasiatische Weihnachten.
Zeit zum Nachdenken unter Palmen.





An manchen Abenden habe ich mir einfach die Happy Hour verdient. Zwei leckere Cocktails zum Preis von einem und dazu die fettesten Erdnüsse der Stadt (gezuckert und gesalzen, eine kambodschanische Spezialität), alles im "Tamarind", meinem Lieblingsrestaurant mit Dachterrasse, nur fünf Minuten Fußweg vom Büro entfernt. Im Dezember munden die Cocktails besonders gut, wenn ich nicht an Stuhl und Glas festklebe und eine leichte Brise die Mücken daran hindert, sich auf meiner Achilles-Ferse niederzulassen und mich blutleer zu saugen. Wunderbar, dass ich mich so normal fühlen kann bei nur 27 Grad. Es ist ja Weihnachten, und ich muss nicht feiern. Angeblich beginnt jetzt auch diese merkwürdige "Zeit zwischen den Jahren", eine Art temporären Niemandslandes - eingeklemmt zwischen Gänsebraten und Neujahrskrapfen, wenn man in Deutschland ist - sanft verstreichend zwischen der ersten und der letzten Margarita, wenn man im "Tamarind" sitzt. Nachdenken über die fröhlichste Zeit im Jahr. Man kann ihr nicht einmal hier entgehen: Erinnerungen an den Weihnachtsmann laufen auch im "Tamarind" herum; die roten Bommelmützen kosten auf dem Markt 1 US$ und werden von allen Kellnern, Ladenmädchen und Kindern im Grundschulalter mit mehr oder weniger Begeisterung über die Ohren gestülpt.


Was denken wohl KambodschanerInnen über Weihnachten? Ich forsche nach. Das ist nicht schwer, denn inzwischen gebe ich meinen Rechnungsprüferkollegen Englischunterricht, damit sie auch mal etwas Vernünftiges lernen. Mein Mini-Kurs besteht aus vier erstaunlich lernwilligen jungen Männern, die kichern wie kleine Mädchen, wenn ich sie darauf hinweise, dass sie schon wieder einmal vergessen haben, das Endungs-S auszusprechen. Das passiert alle naselang. Das Verschlucken der Ende-Konsonanten - es betrifft ja nicht nur das merkwürdig stummgehaltende S, sondern auch alle anderen - ist tatsächlich komisch. Wo das wohl herkommt? Keiner meiner Prüfer hat französisch gelernt. Als Erklärung wird mir angeboten: Khmer-Wörter enden zwar auch manchmal mit einem S, das spricht man aber so gut wie nie aus. Naturgemäß behandelt man andere Sprachen genau so, selbst wenn's falsch ist und selbst wenn man's besser weiß, wohl aus Gewohnheit. Trotz alledem heißt es auf englisch korrekterweise: "My father owns many cars" und nicht "My father own many car." Und eigentlich wollen meine Prüfer ja auch richtig englisch sprechen lernen. Also üben wir sehr lange mit allen möglichen Pluralbildungen. Der Saison angemessen gebe ich das Thema vor: "We have a lot of artificial Christmas trees in Phnom Penh." Im Gegensatz zu der Bemerkung über den Vater mit den vielen Autos kann ich mich für die Richtigkeit der Kunst-Weihnachtsbaum-Anzahl in Phnom Penh verbürgen.


Nebenbei kommt heraus: Meine jungen Kollegen finden Weihnachten prima, auch wenn nicht klar ist, warum man das eigentlich feiert. Ist da nun ein Gott geboren, mit weißem Bart und rotem Mantel? Betet man den Weihnachtsgeist im Tannenbaum an? Ist ja auch egal, denn schließlich hat es mit Spaß zu tun. Den haben Kambodschaner gern. Einer schreibt in seinem Pflichtaufsatz für meinen Englischunterricht: "I am Cambodian and I always enjoy Christmas day too. On that day I had a small party with my old friends and I bought something for my family and I say: 'Happy Merry Christmas and Happy New Year'. Moreover, I sent text message or an email with blessing to all my friends who are staying far away from me. So I think that Christmas is the happy day for Cambodian people." Da frage ich mich doch sofort: Warum bin ich bloß so ein Weihnachtsmuffel, wenn doch hier offensichtlich alle Happy Merry Christmas mit Freude feiern? Ein anderer Kollege freut sich in seinem Aufsatz darüber, dass es nicht nur zu Weihnachten Geschenke gibt, sondern auch am Valentinstag im Februar. Alle stimmen überein: "Holiday makes you happy." Um so mehr, wenn "a lot of artificial Christmas trees are plant everywhere in Phnom Penh".


Von einem meiner "Tamarind"-Abende trete ich beschwingt den Heimweg an und sehe unweit von meinem Lieblingsrestaurant über der Residenz des amerikanischen Botschafters eine riesige Leuchtschrift schweben: "Merry Christmas". Ich mache ein schnelles Foto. Aber das war für den Wachmann in seiner Loge neben dem Tor nicht schnell genug – er hat mich beobachtet, und jetzt will er meinen Ausweis sehen – jawohl, Passkontrolle vor Weihnachtsreklame. Der Wachmann ist ein ernsthafter Kambodschaner ("no nonsense"), für den mein Weihnachtsdeko-Foto ein Sicherheitsproblem für die amerikanische Präsenz in Kambodscha darstellt. Ich bin absolut unkooperativ. Mal sehen, was passiert. Drei Margaritas fließen durch meinen abendlichen Kreislauf, bei optimaler Außentemperatur von (geschätzten) 26 Grad. Mir kann keiner ...


Gibt es ein Gesetz in Kambodscha, das das Fotografieren über Gartenzäune verbietet? Nein, und wenn schon. Ich bin sicher, dass der Wachmann das genau so wenig weiß wie er die Existenz oder Nichtexistenz einer Rechtsverordnung zur Regelung von Lebensmittelfarben in schwarzen Bohnen kennt. Aber er ist kein gewöhnlicher Wachmann – er steht vor der Residenz des amerikanischen Botschafters und hat viel Lametta auf der Uniformbrust. Das sehe ich sogar bei der spärlichen Straßenbeleuchtung. Und er ist nicht allein: In Rufweite stehen zwei ebenfalls lamettierte Herren, die sich an der Tür eines Wagens festhalten. Mein Wachmann wiederholt seine an mich gerichtete Aufforderung - aber ich will mich nur beugen, wenn ich von seinem amerikanischen Vorgesetzten eine Begründung für die Passkontrolle erhalten habe. Soviel Impertinenz ist der Wachmann nicht gewohnt und muss sich erst mit seinen beiden Kollegen besprechen. Jetzt lehnen sie zu dritt am Auto und telefonieren, jeder auf seinem Handy. Mit wem wohl? Der Wachmann kehrt zu mir zurück: Ich solle sagen, bei wem ich in Phnom Penh arbeitete. "Gern", erwidere ich - beim Rechnungshofpräsidenten, Seiner Exzellenz Uth Chhorn. Der gute Mann fragt zurück: "Uth Jaan?" "Uth Chhorn", verbessere ich sanft. Dann redet er mit wem auch immer auf Khmer über einen gewissen Uth Jaan. Schließlich ist das Telefonat beendet. Der Wachmann sagt zu mir, plötzlich mit dem üblichen Khmerlächeln übers ganze Gesicht: "Alles okay, Sie können gehen. Mein Boss sagt, er kennt Sie und Uth Jaan." Erstaunlich, denke ich - wer ist Uth Jaan?


Die ganze Albernheit dauert eine gute halbe Stunde. Zu Hause gucke ich mir das Foto an, digital macht es möglich. Auf dem Foto ist ein buntes Lichtermeer zu sehen, nicht mehr. Wenn das der Weihnachtsmann wüsste ... Oder Uth Jaan ...


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 30. Dezember 2008.


© Mimi Productions

Mein chinesisches Kambodscha

November 2008.


Mein chinesisches Kambodscha.
Das Fremde im Vertrauten und das Vertraute im Fremden.





Es war nicht geplant, sondern ergab sich eher zufällig: Den halben Monat November verbrachte ich in China, auf zwei kleinen wunderbaren Reisen nach Shanghai und nach Hong Kong. Wieder zurück in meiner kambodschanischen Welt aus Zuckerpalmen, Reisfeldern und Hummer-Jeeps entdecke ich plötzlich ein Land voller Attribute aus dem Reich der Mitte. Gehört Kambodscha inzwischen zur großen chinesischen Diaspora-Familie? Und weiß es bloß noch nicht?


Am Independence Monument stehen Mitte November nur noch die riesigen leeren Rahmen, die dort zu des Königs Vaters Geburtstag am 31. Oktober aufgebaut waren und einen überlebensgroßen Sihanouk in landesväterlicher Pose zeigten. Nun sind diese Bildnisse verschwunden. Ist Raum geschaffen für neue Herrscherportraits? Es macht mich nachdenklich, als ich die chinesischen Flaggen betrachte, die beschützend über den Rahmen flattern. Zeichen für eine neue Ära?


Angeblich sind nur 1% der kambodschanischen Bevölkerung von 14 ½ Mio. ethnische Chinesen (sog. Sino-Khmer). Dafür ist ihr überall sichtlicher Einfluss bemerkenswert. Die Beziehungen zwischen dem Königreich der Wasserschlangen und dem Kaiserreich der Mitte sind alt. Von Zhōu Dá Guān 周达观, der das Land im Auftrag seines Kaisers um 1296 n.Chr. bereiste, habe ich schon berichtet. Und er war bei weitem nicht der erste Besucher. Seit Jahrhunderten wanderten Chinesen aus ihren unterschiedlichen Heimatprovinzen nach Kambodscha ein. Alle kamen sie, um sich kürzer oder länger hier aufzuhalten, weil sie damit der Armut entflohen, weil sie politisch verfolgt waren, aus der unfriedlichen Heimat flüchten mussten oder einfach nur Handel treiben wollten.


Aus meinen schlauen Büchern und aus diversen Gesprächen mit Kambodschanern weiß ich einiges über diese chinesischen Volksgruppen, die Teochiu (cháozhōu -- 潮洲), die Kantonesen (guăngdōng -- 广东), die Hokkien (fújiàn -- 福建), die Hakka (kèjiā -- 客家) und die Chinesen von der Insel Hainan (hăinán -- 海南). Manche sind "khmerisiert", andere haben trotz Zeitablauf und Verfolgung ihre Sprache und Kultur aufrechterhalten. Wenn man wie ich regelmäßig "beim Chinesen" speist, könnte man in Phnom Penh denken, man sei in China, so viel Chinesisch wird in diesen Lokalitäten gesprochen.


In diesem Jahr wurde chinesisch bescheiden und ohne allzu großen Trommelwirbel das 50jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen gefeiert. Man hatte es ja nicht immer einfach miteinander. Erinnert sei an die Widersprüchlichkeiten der jüngsten Geschichte, als die Volksrepublik die Roten Khmer mit Waffen, Geld und Militärberatern unterstützte, während Sino-Khmer in der kambodschanischen Heimat wegen ihrer Sprache (es war verboten, andere Sprachen als Khmer zu sprechen), ihrer Bildung (jede/r mit höherem Schulabschluss war suspekt) oder ihrer "falschen" Klassenzugehörigkeit (auch der kleinste Händler war ein Kapitalist) "liquidiert" wurden. Chinesische Schulen waren von 1970 bis Anfang der 1990er Jahre überall geschlossen, jetzt hat allein die Duān Huá Schule 端华学校 (gegründet 1907) wieder 10.000 Schüler.


In einem französischen Stadtplan aus den 1930er Jahren fand ich die verschiedenen Quartiere von Phnom Penh verzeichnet, in denen die Einwohner getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit lebten: die Franzosen, die Khmer (Kambodschaner), die Annamiten (Vietnamesen) und die Chinesen. Letztere wohnten in den Straßen am Phsar Thmei, dem von den Franzosen 1936 erbauten zentralen Markt. Ein Chinatown, wie es andere Städte weltweit kennen, hat Phnom Penh heute jedoch nicht mehr. Chinesisches findet sich überall, als Teil des kambodschanischen Alltags. Manchen Kambodschanern ist das zuviel, wie sie mir sagen - genau so zuviel wie die Präsenz von ethnischen Vietnamesen im Land und die Bedrohung durch thailändisches Militär an der Nordgrenze. Hinter ihrem freundlichen Lächeln verbergen sie ein gerüttelt Maß an Fremdenfeindlichkeit, und zwischen Arroganz und Unterwürfigkeit gegenüber mir "Barang" (westlicher Ausländer) versteckt sich viel Unwissen: So lässt sich am Schnitt ihrer Augen und der Farbe ihrer Haut erkennen, dass ihr Erbgut mehr enthält als "reine" Khmer-Gene (was immer das sein mag).


An vielen Geschäften in Phnom Penh, aber auch in den anderen Städten, steht der Name zwei-, manchmal sogar dreisprachig: in der kambodschanischen Nudelschrift, den chinesischen Schriftzeichen und auf englisch, manchmal sogar noch auf französisch. Der rot beleuchtete Hausaltar für die Dao-Götter des Reichtums und des langen Lebens hat seinen Platz nicht nur im China-Restaurant oder im Salon für chinesische Fußmassage, sondern in jedem Hotel, jedem Geschäft und fast in jedem städtischen Haushalt. Es gibt sogar Läden, die auschließlich diese Altäre verkaufen und offenbar davon leben können, während draußen selbstverständlicherweise ein Geisterhäuschen der Naturgottheiten für Schutz sorgt.


In Phnom Penh erscheinen drei Tageszeitungen in chinesischer Sprache, teilweise in komplizierten Langzeichen, wie noch in Taiwan gebräuchlich, teilweise in Kurzzeichen mit weniger Strichen, die Mao Zedong in der Volksrepublik in den 1950er Jahren eingeführt hat. Ein chinesischer Freund, der als Journalist für eine dieser Zeitungen arbeitet, sagte mir, dass ohne die chinesischen Wirtschaftsbosse in Kambodscha nichts funktionieren würde. Das ist vielleicht etwas übertrieben. Sicher ist, dass die chinesische Präsenz in der kambodschanischen Wirtschaft, so wenig sichtbar sie auch dem ungeübten Auge sein mag, den Staat stützt, mit oder ohne Anti-Korruptionsgesetz (das seit vierzehn Jahren als Entwurf in der Schublade überlebt und angeblich bis zum Ende der jetztigen Legislaturperiode 2013 verabschiedet sein soll), und den chinesischen Einfluss in der Region stärkt (milde ausgedrückt).


Die beiden größten Schreibwarenläden, von Sino-Khmer geführt, verkaufen auch Bücher, und natürlich gehört dazu eine Abteilung mit chinesischer Literatur, Koch- und Schulbüchern und den neuerdings in China sehr populären Ratgebern für alle Lebenslagen, insbesondere für Selbständige ("Wie spare ich Steuern, wie werbe ich effektiv und kostengünstig, wie vermeide ich hohe Gehälter und versichere mich dennoch totaler Loyalität und Dankbarkeit meiner Angestellten und ihrer Familien?"). Dass gerade einer der Buchläden eine riesige Filiale gegenüber dem Parlament eröffnet hat, finde ich bemerkenswert. Mir wurde zugetragen, dass Abgeordnete gar nicht lesen könnten. Das kann wohl nicht richtig sein, denn chinesische Geschäftsleute rechnen vor jeder Investition. Und das tut auch der chinesische Staat. Während die internationale (westliche) Gebergemeinschaft sich darauf verstieg, dem kambodschanischen Staat für 2009 fast 1 Milliarde US$ an Entwicklungshilfe zuzusagen (das Geschenk des neuen US-Präsidenten steht noch aus), versprach China zwar 215 Mio. US$, allerdings den Löwenanteil (207,7 Mio. US$) als Darlehen für Infrastrukturprojekte, die von chinesischen Firmen durchgeführt werden.


Ein Infrastrukturprojekt ganz eigener Art ist das chinesische Sarggeschäft am Sisowath Quai, das man nicht verfehlen kann, denn häufig steht ein bunt bemalter Sargwagen davor. Hier gibt es kunstvoll verzierte und einfach gedrechselte Holzsärge für die Ewigkeit. Während die meisten Kambodschaner Anhänger des Theravada-Buddhismus sind und ihre Toten in der Pagode einäschern lassen, wo die Asche in Urnen aufbewahrt wird, sind chinesischstämmige Kambodschaner in der Regel Mahayana-Buddhisten, die Erdbegräbnisse vorziehen: Sie wollen im Stück vor ihrem Totengott Yama erscheinen. Chinesische Friedhöfe sind leicht an ihren Grabhügeln und bunt geschmückten Gräbern zu erkennen. Ich habe in diesem Jahr am 4. April, zum Totenfest Qíng Míng 清明节, einen Ausflug dorthin gemacht. Die Familien, ausgerüstet mit Speis und Trank für sich und die Ahnen, verschönerten am einen Ende die Grabhügel mit bunten Papierfähnchen, während in gebührlicher Entfernung am anderen Ende eine Schar klapperiger weißer Kühe bereits dabei war, die Papierfähnchen abzuräumen, "durch sieben Mägen sollst du geh'n". Man ließ sie.


Viele der chinesischen Feiertage, die im Ursprungsland an Bedeutung verloren haben oder schon ganz vergessen sind, haben hier noch glühende Anhänger. Im Januar wird in Kambodscha nicht nur das Neujahrsfest mit Löwentänzen und Feuerwerk aufwarten - da wird auch an den Küchengott (灶神 Zào Shén) gedacht. Mit dem muss man sich gut stellen. Denn der wacht ein ganzes Jahr lang über das familiäre Wohlergehen. Bevor das (chinesische) Jahr vorüber ist, wird er seinen Platz am Herd verlassen und dem Jadekaiser im Himmel berichten, was in der Familie vorgefallen ist. Er ist also eine echte Petze, und es hängt an ihm und seiner Berichterstattung, ob der Jadekaiser Gaben oder Strafe mit ihm zurück zur Erde schickt. Was liegt da näher, als ihm den Mund zu verschließen, vorsichtshalber. Das macht man am besten mit Naschwerk: je süßer und klebriger, um so besser. Vor lauter Karamell, das man ihm am 23. Tag des 12. Mondmonats auf seinem Herdaltar opfert, bekommt der Küchengott beim Jadekaiser die Zähne nicht mehr auseinander - und kann nichts ausplaudern. Das zeigt uns eine ziemlich unverschnörkelte Familien-Selbsteinschätzung - und dafür sind Chinesen ja hier und anderswo (mal abgesehen von ihrer Abergläubigkeit) bekannt.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 25. Dezember 2008.


© Mimi Productions

Die Legende von Preah Ko und Preah Keo

Oktober 2008.


Die Legende von Preah Ko und Preah Keo.
Zu lesen bei kambodschanischem Monsunregen nach Sonnenuntergang.





In diesem Oktober erschien mir der Monsunregen besonders heftig. Er trommelte des Nachts unablässig gegen die Fensterscheiben, als wolle er dringendst hereingelassen werden, ein lästiger und unerwünschter Besucher. In meiner kleinen Wohnung fühlte ich mich angenehm geschützt vor der wilden Natur dort draußen, vor den krachenden Blitzen, die in diesem Jahr in Kambodscha schon 77 Leben nahmen (9 wurden von Landminen getötet), und vor dem nicht weniger fürchterlichen Donner. Ich wurde erinnert an die vielen Sonntagnachmittage in den verregneten Sommerferien der Kinderzeit, die ich mit einem Märchenbuch auf der Couch verbracht hatte. Und so las ich im kambodschanischen Oktober-Gewitterregen die Geschichte von Preah Ko und Preah Keo.


Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte in der Nähe der alten Königsstadt Longvaek ein Bauer mit seiner Ehefrau, die schwanger war. Eines Tages träumte der Frau, dass sie drei Ringe mit Diamanten besäße. Aber kaum, dass sie ihrer gewahr wurde, waren die Ringe verschwunden. Die Frau wachte verwundert auf und bat ihren Mann, einen Wahrsager aufzusuchen. Das tat der auch, denn er war ein guter und gehorsamer Ehemann. Der Wahrsager klatschte in die Hände: "Deine Frau wird ein gesegnetes Kind zur Welt bringen. Sie darf aber während der Schwangerschaft auf keinen Fall grüne Mangos essen." Erfreut eilte der Mann zu seiner Frau zurück und überbrachte ihr die Botschaft.


Als sich nun die Schwangerschaft dem Ende zuneigte, überkam die Frau eine unbeherrschbare Gier nach grünen Mangos. Da ihr Mann gerade auf dem Reisfeld arbeitete und sie ihn nicht um Hilfe bitten konnte, kletterte sie allein auf den Mangobaum vor ihrer Hütte. Aber o je - sie kam nicht weit, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Tod. Ihr Schoss öffnete sich, und heraus kam zunächst ein Kalb, kurz darauf ein Menschenkind. Der Bauer hörte aus der Ferne den dumpfen Aufprall und eilte sofort herbei. Doch fand er seine Frau schon leblos vor, zu ihren Füßen Kind und Kalb, die ihm in die Hütte folgten.


Den Nachbarn blieb das Geschehen nicht verborgen. Sie empfanden es als böses Omen, dass eine Sterbende Mensch und Tier geboren hatte, und jagten den Bauern mit seinen Kindern zum Dorf hinaus. Der Bauer flüchtete sich in den Wald. Er vergoss bittere Tränen, weil er nicht wusste, wie er für sich und die Kleinen sorgen sollte. Schliesslich brach ihm sein Kummer das Herz. Er gab dem Kalb den Namen Preah Ko ("Göttliches Rind") und dem Jungen den Namen Preah Keo ("Göttlicher Keo"), weil ihre Geburt an ein Wunder grenzte. Dann legte er sich nieder zum Sterben.


Nun waren die Kleinen ganz auf sich gestellt. Sie aßen wilde Früchte und Wurzeln und entwickelten sich trotzdem prächtig. Eines Tages sah Preah Keo Bauernkinder am Rande eines Reisfelds, die dort ihre Kühe hüteten. Zur Mittagszeit packten sie ihre in Bananenblätter gewickelte Reismahlzeit aus und fingen schmatzend an zu essen. Preah Keo, der bisher noch nie etwas Gekochtes gegessen hatte, wurde von dem Duft der Speise magisch angezogen und bat einen der Jungen: "Bruder, ich habe Hunger, gib mir doch bitte etwas ab!" Der so Angesprochene guckte nur grimmig und scheuchte Preah Keo davon: "Ich bin nicht dein Bruder! Ich gebe dir nichts ab!"


Weinend kehrte Preah Keo zu Preah Ko zurück und erzählte ihm, was vorgefallen war. "Du musst nicht traurig sein", sagte Preah Ko. Dann begann er zu würgen und spuckte ein Tischtuch auf den Boden, dann eine goldene Schale mit gekochtem Reis und schließlich einen silbernen Teller mit Gemüse und Löffel und Gabel als Essbesteck. Preah Keo staunte nicht schlecht und machte sich sofort über die Speisen her. Da er sich alles sehr geräuschvoll einverleibte, zog er die Neugier der Bauernkinder auf sich, die längst ihre Mahlzeit beendet hatten. Sie lugten durchs Gebüsch und beobachteten das Geschehen erstaunt. Kaum hatte Preah Keo aufgegessen, da verschluckte Preah Ko das Tischtuch wieder, das Geschirr und das Besteck, als hätte es sie nie gegeben. Die Bauernkinder aber rannten sofort nach Hause zu ihren Eltern und erzählten von der Beobachtung.


Nur eine halbe Stunde später stürmten die Bauern mit ihren Majeten zu dem Baum, unter dem Preah Ko und Preah Keo in der Nachmittagssonne friedlich schliefen. Die Bauern hatten nichts Besseres vor, als Preah Ko den Bauch aufzuschlitzen, um an sein Gold und Silber heranzukommen. Als Preah Keo die bewaffnete Menge sah, da fürchtete er sich sehr. "Hab keine Angst, kleiner Bruder", sagte Preah Ko mit sanfter Stimme, "schnell, halt dich an meinem Schwanz fest." Und schon erhob er sich in die Lüfte und flog mit Preah Keo davon. Sie landeten nicht weit entfernt an einem See, an dessen Ufer sie ihr neues Zuhause einrichteten.


Der kambodschanische König hatte währenddessen fünf Töchter groß gezogen. Die Jüngste, Neang Pou, war die schönste unter ihnen. Eines Tages packten die Mädels ihre Badeanzüge ein und machten sich auf zu einem Ausflug in die Umgebung. Sie landeten just an dem See, in dessen Nähe Preah Ko und Preah Keo sich eine Hütte gebaut hatten. Durch die Zweige eines Busches beobachtete Preah Keo das Treiben der fünf Schönheiten und verliebte sich unsterblich in Neang Pou. Dann blickte er an sich herab und stellte fest, dass er offensichtlich für ein Rendez-vous nicht standesgemäß gekleidet war. "Was soll ich bloß machen?" Aber auch hier wusste Preah Ko Rat und spuckte für seinen Bruder ein wunderbares Gewand aus purer Seide aus, das ihm das Aussehen eines Prinzen verlieh. So konnte er sich den jungen Damen zeigen, die sofort Gefallen an ihm fanden. Sie neckten ihn und überredeten ihn zu einem Spiel. Sollte er gewinnen, so könne er sich von ihnen wünschen, was er begehre, so versprachen sie ihm. Und natürlich gewann er, und natürlich suchte er sich Neang Pou als seinen Preis aus. Die anderen Schwestern, die er damit zurückgewiesen hatte, rannten verärgert zu ihrem Vater und erzählten ihm, dass Neang Pou sich ganz unprinzessinnengemäß im Wald mit einem Fremden vergnügen würde. Daraufhin verstieß der König seine jüngste Tochter. Die fand das nicht weiter tragisch, denn inzwischen bereitete Preah Keo ihre Hochzeit vor. Preah Ko tat sein Bestes und würgte einen wunderbaren Palast hervor, in dem die drei einträchtig miteinander lebten.


Inzwischen hatte der kambodschanische König eine schwierige Staatskrise zu bewältigen. Der thailändische König, sein Rivale, hatte ihn zu einem Hahnenkampf herausgefordert: Sein Lieblingshahn sollte gegen einen kambodschanischen Hahn kämpfen. Dem Sieger sollte das Königreich des anderen gehören. Der kambodschanische König bekam Kopfschmerzen, denn er wusste um die Stärke der thailändischen Hähne. Aber da entsann er sich, dass seine jüngste Tochter nicht nur die schönste, sondern auch die klügste seiner Mädchen war. Er ließ sie suchen und bat um ihre Hilfe. Ihr Ehemann wusste Rat: Preah Ko, das Rind, verwandelte sich in einen Hahn und besiegte den thailändischen Gegner. In einem nächsten Kampf verwandelte er sich in einem Elefanten und besiegte den thailändischen Kriegselefanten. Als der thailändische König um einen dritten, letzten Kampf zwischen Stieren bat, erkannte Preah Ko, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte - er musste fliehen.


"Halt dich an meinem Schwanz fest und achte darauf darauf, dass sich deine Frau fest an dich klammert!" rief er Preah Keo zu und schwang sich empor. Während Preah Keo seinen Bruder fest im Griff hatte, konnte sich Neang Pou nicht lange halten. Sie stürzte zu Boden und brach sich das Genick. Die beiden Brüder flohen tief in den Urwald, wo Preah Keo sich seinem Schmerz hingab. Preah Ko versuchte, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Er verwandelte den Urwald in ein Blütenmeer, die Bäume trugen die saftigsten Früchte, das Leben war harmonisch und schön. Dem thailändischen König wurde dies alsbald zugetragen: Im kambodschanischen Wald gebe ein kleines Paradies. Und der wollte das sofort besitzen.


Der thailändische Hofwahrsager konnte nicht nur sehr präzise vorhersagen, wo der schöne Urwald zu finden sein würde - er erkannte auch Preah Ko darin mit seinen Zauberkräften. Um so mehr wollte der thailändische König Urwald und Wunderrind besitzen. Da der Urwald aber sehr dicht gewachsen war, wandte der König eine List an: Er ließ seine Soldaten mit ihren Gewehren Silbermünzen in das Dickicht schießen. Die Bauern der Umgebung sahen die Münzen schimmern und holzten in kürzester Zeit alles ab, so dass sich Preah Ko und Preah Keo nicht mehr verstecken konnten. Es war ein Leichtes für die Soldaten, Preah Ko mit einem magischen Strick einzufangen. Der thailändische König baute für Preah Ko und Preah Keo einen wunderbaren Palast in Thailand, in dem er sie einsperrte und mit sieben dicken Mauern umgab. Es war unmöglich für die beiden Brüder, aus diesem goldenen Gefängnis zu entfliehen. Sie kehrten nie wieder nach Kambodscha zurück.


Und in der nächstes Deutschstunde identifizieren wir die in dieser Legende dargestellten nationalen Traumata und interpretieren sie vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation in Preah Vihear.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 30. Oktober 2008.


© Mimi Productions

Eine behelmte Kokosnuss und eine Ruine der Hoffnung

September 2008.


Eine behelmte Kokosnuss und eine Ruine der Hoffnung.
Kunst ist eine Notwendigkeit.





Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Da hat Karl Valentin einfach Recht, und deshalb muss ich ihn mal wieder zitieren. Ich frage mich nämlich häufig, warum Phnom Penh davon so wenig hat, Kunst meine ich, und vielleicht ist das eine Antwort: weil die Arbeitskraft zu anderen Zwecken eingesetzt wird. So schütten sie gerade ihren größten See in der Stadt zu, den Boeung Kak (die kleineren sind schon weg), um 133 Hektar Bauland für Luxusbehausungen zu gewinnen, mit deren Entwicklung eine wenig bekannte, aber Verlautbarungen nach gut mit offiziellen Stellen vernetzte Firma beschäftigt ist. Die Verfüllung des Sees soll 16 Monate dauern, das ist ein großes Stück Arbeit. Ein eben so großes Stück Arbeit harrt derer, die am See ihre Behausungen verlieren. Da sie nicht Eigentümer von Grund und Boden sind, haben viele der 4.250 Familien ihre Holzhütten über das Wasser gebaut, auf Pfählen und nur über schwankende Holzstege zu erreichen. Ich war da bei Sonnenuntergang – es war ein schöner Anblick über dem See. Ich wagte auch einen Blick in die Hütten. Durch den Bretterboden ließ es sich auch auf den See gucken, zum Fischezählen.


Und doch gibt es auch hin und wieder Kunst zu sehen in der Stadt. Man erspare mir hier weitere theoretische Erläuterungen über das Wesen der Kunst an sich und im Besonderen und ob das neue Phnom Penh der aktuellen Umbauphase mit seinen Protzbauten, leer geräumten Grundstücken, lebendigen Märkten, Slumvierteln und Luxuskarossen nicht auch ein einziges Kunstwerk sei. Denn ich hatte gerade ein Vergnügen: Kunst satt ein ganzes Wochenende lang, und ich bin noch immer entzückt. Es gab Installationen, Collagen, Fotografien und Filmdokumentationen junger kambodschanischer Künstler zu betrachten, die keine Folklore reproduzierten - keine Zuckerpalmen über Reisfeld, keine vollbusigen Apsaras in Volkstanzpose und auch keine Elefanten bei der Bergbesteigung -, sondern die das kreierten, was Kunst als Notwendigkeit zum besseren Verständnis unserer Existenz ausmacht: Sie haben über ihren kambodschanischen Alltag nachgedacht, sie haben ihre eigenen Ideen entwickelt und uns ein Ergebnis präsentiert, das ohne Vorlagen aus dem Versandhauskatalog traditioneller Versatzstücke auskommt.


Leang Seckon ist 34 und studierte Kunst in Phnom Penh. Seine Installation heißt "Reflektion" und besteht aus zwei Teilen: Hinter einem von der Decke hängenden leeren Holzrahmen steht eine Figur, die eine als Uniform erkennbare Oberbekleidung trägt. Das eine Hosenbein ist hochgekrempelt und legt den Blick frei auf ein Holzbein, wie es viele Minenopfer in Kambodscha besitzen. Das Jackenvorderteil verzieren Abzeichen, Ketten und Medaillons der letzten 50 Jahre, also aus der Zeit der Unabhängigkeit Kambodschas von der französischen Kolonialherrschaft. Eine Kokosnuss, zum Totenschädel verfremdet und von einem Helm geschmückt, thront über der Jacke. Auf der anderen Seite des Rahmens liegen ein zerstörtes Motorrad und ein intaktes Fahrrad auf dem Boden. Der Künstler sagt in einem Zeitungsinterview: "(Die Installation) ... soll die Verwirrung zeigen: In langen Jahren von Krieg und Konflikt verloren die Menschen ihre Familie, sie verloren Teile ihrer Gliedmaßen wegen der Landminen, sie verloren ihre Seele. ... Sie sind verwirrt durch das politische Durcheinander der letzten Jahrzehnte. Sie denken nicht über die Zukunft nach, sie denken im Straßenverkehr nicht an mögliche Verletzungen, sie denken nur an das Hier und Jetzt." Leang Seckon befasst sich mit dem Chaos in den Köpfen der Menschen, das sich für ihn widerspiegelt in der Art und Weise, wie sie sich im Straßenverkehr bewegen: Da geht häufig alles durcheinander, Rechts- und Linksverkehr, rote Ampeln werden nicht beachtet, wie auch sonst das neue Verkehrsgesetz reine Makulatur bleibt (insbesondere die Geschwindigkeitsbegrenzungen). Für Leang Seckon ist das Verkehrsverhalten symptomatisch für den Umgang der Kambodschaner miteinander. Er sagt: "Zwar leben die Menschen Seite an Seite, aber sie haben keine gemeinsamen Überzeugungen." Anders als im wirklichen Leben überlebte das Fahrrad der Installation den fiktiven Zusammenstoß intakt.


Ganz in der Nähe der Ausstellung hat sich ein Franzose mit dem alten Phnom Penh beschäftigt. Georges Rousse, Architekt und Fotograf aus Paris, kam auf Einladung des Centre Culturel Français. Mit seiner Kunst verfremdet er Orte, die dem Abriss oder der Totalsanierung anheim gegeben sind, indem er sie umbaut, bemalt und fotografiert. Der normale Besucher seiner Ausstellungen sieht nur das Endprodukt der künstlerischen Auseinandersetzung: das Foto. Ich hatte die Freude, den fotografierten Ort selbst sehen zu können und der Illusion, die seine Fotos herstellen, auf die Spur zu kommen.


Seit ich in Phnom Penh wohne, fasziniert mich eine große Villa aus der Kolonialzeit, die an prominentem Ort, gleich gegenüber von Nationalmuseum und Königspalast, steht, märchenhaft-verwunschen und scheinbar unbewohnt immer mehr an Farbe verlierend, einst buttergelb und leuchtend, jetzt schwarz gezeichnet von Regenguss und Umweltschmutz, aber immer noch umgeben von mediterranem Charme. Letztens war zu erfahren, dass die Eigentümer des Restaurants "Foreign Correspondents Club" – die von ihrer Terrasse direkt auf dieses Haus gucken – auch einen Blick ins Portemonnaie wagten und dann spontan entschieden: "Wir kaufen es!" Es wird also erhalten werden, und aufwändige Umbaumaßnahmen stehen an. Das ist genau der Augenblick, auf den Georges Rousse gewartet hat: Bevor die Ruine verschwindet (und sich wieder in einen Schwan zurückverwandelt), macht er sich ans Werk, er bearbeitet, fotografiert – und geht.


Ich sah das Foto aus der Villa mit den schwarzen Buchstaben DREAM schon in der Zeitung. Es war die perfekte Abbildung einer morbiden Räumlichkeit, eines desolaten Ortes, einer verlassenen Behausung, die durch die Klarheit und Geradlinigkeit der Buchstaben zusammen gehalten und physisch gestärkt wirkt - die Buchstaben wie auf das Bild hinaufgedruckt. Jetzt aber, als ich in der Villa vor den pastellfarbenen Wänden stehe, sehe ich zunächst nur Fragmente der Lettern, die sich zu Einzelbuchstaben, dann zu einem Wort erst zusammensetzen, als ich auf der "richtigen" Stufe der schön geschwungenen Treppe davor stehe und mir den Hals verrenke: ja – so geht es – das D ist ein schlicht lesbares D, platt auf die Wand gemalt, ein D aus allen Blickrichtungen; aber das A ist zum Teil im nächsten Raum gemalt und erscheint vollständig erst durch die Türöffnung; das E erstreckt sich übers Eck; und das R wird auch erst zu dem, was es sein soll, wenn der Betrachter aus dem passenden Winkel guckt. Wie ich stehen bald viele Besucher auf der Treppe und üben sich in leichter Gymnastik. Zu spät fällt mir auf, welch wunderbare Dokumentationen dies ergibt: Der Ausstellungsbesucher wird selbst für kurze Zeit zur Installation, "auf der Suche nach dem vergehenden Wort – ein Traum". Ein junger Mann, der zum Management des "Foreign Correspondents Club" gehört, sagt mir, dass im nächsten Monat mit den Umbauarbeiten begonnen werden solle. Das freut mich einerseits – weil ich nun sicher sein kann, dass endlich mal wieder ein schöner alter Ort in Phnom Penh erhalten bleibt. Andererseits macht es mich auch traurig – bald gibt es die Buchstabenbemalung nur noch als Foto. Doch vielleicht wird durch ihr Verschwinden ein Traum war, ein Traum von Phnom Penh.


Kambodscha tut wenig für seine zeitgenössischen Künste. Es mag sein, dass die Pflege des historischen Weltkulturerbes von Angkor und (seit kurzem) Preah Vihear kaum weitere Aktivitäten zulässt. Aber es gibt eine Königliche Universität der Darstellenden Künste, die nach einem Tausch des wertvollen Innenstadtgeländes inzwischen an den Rand der Stadt verbannt ist, wo sie mangels regelmäßiger Strom- und Wasserversorgung kaum noch besucht wird. Das neue Theater wird nicht bespielt, weil das tropische Regengeprassel auf dem Dach menschliche Sprache und Musik übertönt und andere Mängel noch nicht behoben sind. Wie kommt es, dass die staatlichen Haushaltsmittel dafür so magelhaft verwendet erscheinen? Alas, ich werde das wohl kaum herausfinden dürfen in der mir noch verbleibenden Zeit und muss mich darauf beschränken, Orte in der Stadt zu genießen, wo sich für kurze Zeit die Künste traumwandlerisch bewegen können. Es gab eine Zeit Anfang der 1990er Jahre, als Kambodschas berühmtester Architekt, Vann Molyvann, als Staatsminister für Kultur und Bildende Künste in der Königlichen Regierung tätig war. Er hatte sie erkannt, die Notwendigkeit der Kunst für dieses Land. Bleibt die Verwirklichung dieser Erkenntnis - ein Traum?


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 23. September 2008.


© Mimi Productions

Die kambodschanische Tierwelt bei Vollpension

August 2008.


Die kambodschanische Tierwelt bei Vollpension.
Ein Spaziergang durch den Zoo von Phnom Tamao.





Was haben Gibbon, Sambar und Gaur gemein? Die Staatsbürgerschaft - alle drei sind Kambodschaner, und ich habe sie im Zoo besucht. Während auf allen Fernsehkanälen Olympia in Beijing gegeben wird, gönne ich mir ein anderes Spektakel, einen Spaziergang durch den "Phnom Tamao Zoological Garden and Wildlife Rescue Center", ungefähr 45 km südlich von Phnom Penh. Der Name klingt ein wenig dick aufgetragen, und die Anfahrt mit Herrn Thi und seinem Tuk-Tuk auf der holperigen Staubstraße entlang von endlos sich hinziehenden Reisfeldern war ebenso schüttelintensiv wie ereignisarm, so dass ich zunächst enttäuschungsvorbeugend meine Erwartungshaltung beschränke. Jedoch wäre das nicht nötig gewesen. Die einzige Hürde überspringe ich mühelos schon am Eingang: Ich muss mir die Eintrittskarte (stolzer Preis für Ausländer: 5 US$) für mein Tagebuch erkämpfen. Sehr mürrisch guckt der Verkäufer und schiebt sie nur widerwillig über den Tresen. Gern hätte er wohl den Eintrittspreis mehrmals für die nummerierte Karte kassiert, was er nun nicht mehr kann.


Sofort bin ich von einer Schar kreischender Kinder umringt, die mir nichts verkaufen wollen, sondern bloß mal ein bisschen Krach machen vor Publikum. Gerettet werde ich von einem jungen Mann mit erfreulichen Englischkenntnissen. Er komme jeden Tag hierher, sagt er mir, und er sei ein guter Führer. Er hat mich nicht angeschwindelt, tatsächlich erfahre ich etwas über die Tiere, das über die Beschriftung an den Käfigen hinaus geht (denn jawohl, die gibt es, sogar auf englisch!). Mein Führer scheint alles über die Zoobewohner zu wissen: Name, Alter, Familienstand, Essgewohnheiten. Und er sagt mir sogar, wie ich sie am besten fotografieren kann: "Warte, gleich kommt das Stachelschwein aus seinem Bau!" Er macht ein merkwürdiges Geräusch, hält einen langen Grashalm durch den Maschendraht - und wie auf Knopfdruck erscheint die schwarz-weiße Riesenbürste und knabbert gar zierlich an dem Grünzeug. Klick - und fertig ist das erste Portrait.


Das Tolle an diesem Zoo ist die Zusammenstellung der Tiere, die man hier in Ruhe studieren kann, um sie später - bei einigem Glück - in voller Schönheit in freier Wildbahn wiederzuerkennen - solange es sie noch gibt. Denn die meisten der kambodschanischen Wildtiere gehören zu gefährdeten Arten, ein Status, der ihnen hier, wo sie als Beilage zur täglichen Reisration betrachtet werden, keinen Schutz gewährt.


Der Irrawaddy-Delphin (der in Kambodscha "Mekong-Delphin" heißen sollte) muss draussen bleiben, weil ein seinen Bedürfnissen entsprechendes Schwimmbecken für den Zoo zu aufwändig gewesen wäre. Dafür hat ein kleinerer Kerl seinen eigenen See (10 x 15 m!) bekommen und ist inzwischen eine regelrechte Lokal-Berühmtheit. Wo viele bei dem Ausdruck "Schwimmen" jetzt nur noch an Michael Phelps und sein tonnenschweres olympisches Gold denken, konzentriere ich mich auf diesen tierischen Meisterschwimmer, den ich zudem auch noch hübscher anzusehen finde als das amerikanische Wasser-Wunder. Dieser hier heißt Dara (auf deutsch "Stern") und ist ein "Lutra sumatrana", ein Otter mit einer behaarten Nase. Jawohl - so etwas gibt es, d.h. so etwas gibt es noch. Denn einige Biologen behaupten, dass Dara einer der letzten seiner Art in Kambodscha ist. Neben seinem neuen Heim wohnen die eher gewöhnlichen Verwandten (Eurasische Otter, Lutra lutra), die sich ein viel kleineres Wasserbecken teilen müssen, aber irgendwie vergnügter und auch ein wenig streitlustig wirken. Es ist nämlich Zeit zum Mittagessen, da drängeln sie sich alle am Gatter, wo bereits der Eimer mit lecker Fischchen auf sie wartet, und machen ein Mordstheater wie Marktschreier kurz vor Feierabend. Diese Otter sind sehr gesellige Kerlchen, und ich wünsche Dara, dass er nicht mehr lange Junggeselle bleiben muss.


Was zu gucken gibt es auch bei der Gibbon-Familie "Hylobates lar lar". Ein Gibbon ist ein kleiner Affe, dessen bemerkenswerte Fortbewegungsart ein Schwingen von Ast zu Ast ist, was ihn wie einen Mini-Tarzan erscheinen lässt, bloß ist er im Gegensatz zu dem menschlichen Brüller wesentlich eleganter. Bis zu 15 m Distanz zwischen den Bäumen kann er im Fast-Flug überwinden und das bei einer Geschwindigkeit von bis zu 56 km/h, wahrhaft olympisch. Im Zoo ist der Käfig für solche Hochleistungen zu klein, doch die Turnübungen auch der ganz Kleinen beeindrucken mich. Diese Babies bestehen eigentlich nur aus sehr dünnen, aber extrem langen Armen, die sie weit vom Körper abstrecken. Bewegungslosigkeit kennen sie nicht, sie greifen mit einem kleinen Händchen, das genau so aussieht wie meines, nur in ganz, ganz winzig, komplett mit allen fünf Fingerchen und Fingernägelchen, in den Maschendraht, und mit der sprichwörtlichen affenartigen Geschwindigkeit stoßen sie sich ab, um sich an anderer Stelle mit dem anderen Händchen kurz festzuhalten, aber schon pendelt der andere Arm weiter und nimmt das schmale Körperchen mit, das zwischen diesen langen Gliedmaßen wie eine Geisel wirkt: Es wird hin- und hergeschaukelt und muss immer mit, ob es will oder nicht. Schon beim Zugucken wird mir schwindelig. Wie machen die das bloß in der mittäglichen Hitze!


Nach all dieser Hektik wende ich mich ruhigeren Zeitgenossen zu, die einfach nur herumliegen und kauen und außer dem Unterkiefer rein gar nichts bewegen. Ich stehe vor dem Gehege der Gaur. Wenn ich die so betrachte, dann frage ich mich, warum die Kambodschaner keine Gaur domestiziert haben, sondern diese klapprigen weißen Kühe, die keine Milch geben und kaum Fleisch auf den Rippen haben. Der Gaur (Bos gaurus) ist das größte wildlebende Rind in Süd- und Südostasien, das bis zu 1.500 kg wiegen kann bei einer Schulterhöhe um die 2 m. In seiner Massigkeit sieht der Gaur dem Wasserbüffel ziemlich ähnlich. Das Prachtexemplar, das da in meiner unmittelbaren Nähe, aber erfreulicherweise hinter einem recht stabil aussehenden Zaun vor sich hin verdaut, besticht durch seine hellblonde Lockenpracht zwischen den Respekt einflößenden Hörnern: ein hübscher Kontrast zum dunkelbraunen Fell. Obwohl der Gaur angeblich ein relativ harmloser Vergetarier sein soll (wenn man ihn in Frieden grasen lässt), möchte ich keinem bei meinem Waldspaziergang begegnen.


Ich denke, dass ich auch vor einem Sambar davonlaufen würde. Diese Hirschart ist in vielen Teilen Asiens anzutreffen, in Kambodscha lebt der Clan der "Cervus unicolor". Richtig klein ist dieser Sambar nicht, und schwer (bis 500 kg) wird auch er. Aber der Sambar-Bock im Zoo von Phnom Tamao ist noch ganz jung, mit antilopenartigem schmalen Gesicht und einer dramatischen Zeichnung von der Stirn zum Geweih, was mich an die Gesichtsbemalung der Peking-Oper-Darsteller erinnert. In Kambodscha ist sein Hauptfeind, der Tiger, so gut wie ausgestorben. Dafür wird der Sambar wegen seines Fleisches von den Menschen gejagt, auch wenn's verboten ist.


Wie reich die Tierwelt Kambodschas (noch) ist! Solange die Khmer ihre Wälder nicht gänzlich abgeholzt haben, die Jagdverbote beachten und die eingerichteten und geplanten Schutzgebiete für Flora und Fauna ernst nehmen, besteht Hoffnung für Marabus (Leptoptilos dubius), Mungos (Herpestes javanicus), Schakale (Canis aureus), Fisch-Eulen (Ketupa zeylonensis) und die vielen anderen Lebewesen dieser "asiatischen Serengeti", wie ein wunderbarer Dokumentarfilm über die Provinz Mondulkiri die kambodschanische Tierwelt bezeichnete.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 20. August 2008.


© Mimi Productions

Unruhe um ein Weltkulturerbe

Juli 2008.


Unruhe um ein Weltkulturerbe.
Empfindlichkeiten und die langen Schatten der Vergangenheit.





Den halben Juli verbrachte ich in der deutschen Heimat, um die Wahrheit um die Wahrsagerinnen Kambodschas ans Licht zu bringen. Dort stellte sich schon bald heraus: Die mir diesbezüglich im Juni erbrachte Arbeitsleistung liegt im Bereich "zufriedenstellend", die Vorhersage war zu 75 % richtig und zu 25 % falsch – denn ich werde nicht das nächste Jahr in Kambodscha verbringen, sondern bereits als Aprilscherz 2009 auf brandenburgischem Boden aufschlagen, will sagen: aus der S-Bahn treten. Soviel dazu.


Jetzt sitze ich wieder in meinem betreuten Wohnen in Phnom Penh, das hier "serviced apartment" heißt und für faule, also beruflich übermäßig eingespannte oder sich dafür haltende Ausländer/innen wie mich Putz- und Bügeldienste, täglich mehr oder weniger saubere Handtücher und – je nach Portemonnaie – Frühstück aufs Zimmer und frisch gewaschene Unterhosen bereit stellt. Außerdem gibt es für Sicherheitsfetischisten sogenannte Wachleute am Eingang, zarte Jüngelchen in schmucker Uniform und übergroßen Stiefeln (oft zu heiß tagsüber und daher gern gegen Badelatschen ausgetauscht), die zumeist jedem, der durchs Tor hineinschlüpft, freundlich zulächeln. In so einer Luxus-Hochburg sitze ich also des Abends, während draußen Regenzeit gegeben wird, und grusele mich beim Zeitunglesen: Seit einer Woche zieren Fotos von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten der RCAF (Royal Cambodian Armed Forces) die erste Seite meiner englischsprachigen Tageszeitung.


In meiner Abwesenheit gab es hier einen unspannenden Wahlkampf (zum Glück lag keine Betonung auf "Kampf") und eine mit Spannung erwartete Entscheidung der Unesco: Die erklärte schließlich am 7. Juli den Tempel Preah Vihear im Norden Kambodschas an der Grenze zu Thailand zum Weltkulturerbe. Und seit dem 15. Juli stehen sich dort thailändische und kambodschanische Militärs angriffsbereit gegenüber – wie kann das sein, frage ich mich mal wieder und zweifele an meiner Fähigkeit, dieses Land und die Beziehungen zu seinen Nachbarn zu verstehen. Ich habe versucht, meine Bücher, Zeitungen und Kollegen als Ratgeber heranzuziehen. Heraus gekommen ist Folgendes, für dessen Richtigkeit ich mich nicht verbürgen kann:


Der Tempel, der heute unter dem Namen "Preah Vihear" bekannt ist, wurde zur Regierungszeit des Khmer-Königs Yasovarman I begonnen (889 bis 910 n.Chr.) und drei Könige später, unter Suryavarman II (Regierungszeit 1113 bis 1145 n.Chr.), beendet. Als die Khmer-Könige ihre Macht verloren hatten und ihr Reich zerfiel, gehörte Preah Vihear zum Einflussbereich der Thai, dann wieder zu dem der Kambodschaner. Aus unerfindlichen Gründen überließen die französischen Kolonialherren den Tempel Anfang der 1950er Jahre den Thais. Aber bereits 1953 reisten sie zurück an die Côte d'Azur, denn Sihanouk hatte die Unabhängigkeit seines Königreichs erklärt und wollte nun selbst bestimmen, über was er da regierte. Auf sein Bestreben hin entschied der Internationale Gerichtshof 1962, dass es kambodschanisches Staatsgebiet sei, auf dem Preah Vihear gebaut sei. Damit, könnte man meinen, hätte es gut sein können. Hat es aber nicht. Denn auch wenn jetzt anerkannt ist, dass Preah Vihear zu Kambodscha gehört, so wird die unmittelbare Umgebung des Tempels in den Dangrek-Bergen weiterhin sowohl von den Khmer als auch von den Thai beansprucht. Überall da, wo es gebirgig ist oder urwaldet, wo viel Wasser herumschwappt oder alles im Sand versinkt – da haben es Grenzvermesser traditionellerweise schwer. Das nördliche Kambodscha hat zu Thailand eine dieser unscharfen Grenzen im unübersichtlichen Grün. In ca. zehn Jahren will die Regierung die 73 Grenzsteine wiedergefunden haben, die irgendwann einmal als Demarkation aufgestellt worden sind – 20 hat sie bisher erst entdeckt. Im Jahr 2000 verständigten sich die kambodschanischen und thailändischen Behörden, dass die Sucherei nach den Grenzsteinen ungestört von Militär stattfinden sollte, will heißen: Kein Uniformierter sollte da oben herumspazieren, es sei denn zum Sonntagsausflug mit der Familie - und in Zivil.


Aber offenbar zieht das Gebiet den Streit der Uniformen an. Die letzten Khmer Rouge-Guerillas harrten hier im Kampf gegen die Regierungstrupppen bis 1997 aus, fast 20 Jahre, nachdem ihr "Demokratisches Kampuchea" genanntes, mörderisches Menschenexperiment zum Scheitern gebracht worden war. Und einige dieser Kämpen sind jetzt auf der Titelseite meiner Tageszeitung und dürfen als Interviewpartner verkünden, dass sie nichts aus ihrer Roten Khmer-Kämpferzeit vergessen hätten, manche ihrer damaligen Waffen seien noch gut einsetzbar - und wie gern sie, jetzt stolze Mitglieder der Königlichen Armee, ihren Thai-Kollegen auf die Mütze hauen würden. Die haben sich in Rufweite der RCAF und Preah Vihear eingegraben, 4.000 sind es nach offizieller kambodschanischer Schätzung, die nichts über die eigene Truppenstärke auszusagen weiß. Bisher blieb es ruhig. Ein Thai-Soldat starb eines "natürlichen Todes", ein anderer verlor durch eine Landmine ein Bein, nichts Derartiges bei den RCAF. Aber in Phnom Penh wird Essen und Geld für die Soldaten "an der Front" gesammelt und Import-Gut aus Thailand boykottiert.


Der Autor der "offiziellen Biografie" vom König-Vater Sihanouk, Julio A. Jeldres, äußert sich erbost in der Zeitung, dass Preah Vihear als "Hindu-Heiligtum" bezeichnet wird. Nein nein, der sei immer ein "Khmer-Tempel" gewesen, bis auf die Zeit seiner Eroberung durch die Thai – eine Zeit, die (man lese und staune) von 1431 bis 1907 andauerte. Der Tempel wurde um 1120 n.Chr. fertig gestellt; so kann man leicht errechnen, dass er ungefähr 870 Jahre alt ist und 476 Jahre nicht unter Khmer-Königsherrschaft stand. Herr Jeldres versteht die Differenz unter "immer", nun ja. Und dieser immer Khmer seiende Tempel wurde von Khmer, die zu dieser Zeit Hindus waren, dem Hindu-Gott Shiva geweiht, was den Tempel damit so sehr zu einem hinduistischen Heiligtum macht, wie der Petersdom eine katholischen Kirche ist. Oder dürfte man den einfach nur als "Gotteshaus des Vatikanstaates" bezeichnen?


Aber man soll ja vorsichtig mit Empfindlichkeiten, gleich welcher Art, sein. Vor allem, wenn man wie ich alles nur unzulänglich aus unsicheren Quellen weiß, behaglich vor Regen und Dschungelungeziefer geschützt ist und weit weg sein darf von dieser umstrittenen Grenze. Doch fürchte ich mich vor Uniformen, auch wenn sie nur auf Fotos in Schwarz-Weiß auf der ersten Seite meiner kambodschanischen Tageszeitung zu sehen sind. Und ich finde, dass sich alle an einem Weltkulturerbe erfreuen dürfen.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 7. August 2008.


© Mimi Productions

Die Zukunft aus grünen Blättern

Juni 2008.


Die Zukunft aus grünen Blättern.
Bei der Wahrsagerin.





Ich will es endlich wissen. Meine Khmerlehrerin guckt mich fragend an: Ob das mein Ernst sei, ob ich daran wirklich glauben würde ... Sie habe mich doch auch von der Existenz der verschiedenen Wald-Geister und Wasser-Ungeheuer nicht überzeugen können, obwohl ihre Großmutter (chinesischen Ursprungs!) sich doch für die Richtigkeit der Aussagen verbürgt habe ... (Oma hatte nämlich das Übernatürliche mit eigenen Augen gesehen, was für ihre Enkelin so wirklich ist, als wäre auch sie dabei gewesen.) Ich gebe zu: Es erscheint widersprüchlich, ein schwebendes Etwas mit Eberzähnen in den Bereich der Legenden zu verweisen, aber an die zukunftsgestaltende Kraft einer Pique-Sieben zu glauben. Doch bin ich wild entschlossen, mir Rat bei einer kambodschanischen Wahrsagerin zu holen.


Bis vor kurzem konnte man sie und ihre Kollegen noch am Wat Phnom aufsuchen. Da saßen sie dicht gedrängt in unterschiedlicher Kostümierung in ihren Buden, meist neben einem kleinen Hausaltar (der Segen der Unsterblichen ist immer gut fürs Geschäft), ausgestattet mit Spielkartendeck und Wahrsagestäbchen, und verhalfen den Uneingeweihten zu mehr oder weniger gesicherten Aus- und Einsichten. Bedauerlicherweise führte die Stadtverwaltung gerade hier ihr Programm "Unser Dorf soll schöner werden" durch. Mir hätte es ja gereicht, wenn einfach nur der Stinkemüll weggezaubert wäre. Aber nein, alle Buden mussten verschwinden, die Fläche wurde gepflastert (nur zum Teil natürlich - denn wir sind ja in Kambodscha, und da hat man ewig lange Zeit zur Umsetzung von Arbeitsanweisungen, besonders wenn sie von der Stadtverwaltung kommen), und jetzt sieht das alles viel unordentlicher aus als früher und keineswegs interessanter für die Touristen - letzteres war nämlich die offizielle Begründung der Umgestaltung. Zum Glück weiß meine Lehrerin, wo wir hinfahren müssen. Immerhin ist sie verheiratet: Natürlich geht man in Kambodscha zum Wahrsager, um sich den für die Eheschließung glückbringenden Tag nennen zu lassen. Und dann weiß man halt auch für andere Fälle, wo man sich Rat holen kann.


In die Zukunft blicken zu können und Antworten auf schwierige Fragen ohne große Anstrengungen zu finden, ist ein alter Menschheitswunsch, den wir Normalsterblichen uns auf verschiedenste Art mit graduell unterschiedlicher Präzision erfüllen. Das geht von der Gänseblümchen-Methode ("er liebt mich, liebt mich nicht, von Herzen, mit Schmerzen ...") über das Tageszeitungshoroskop bis zu Tarotkarten und Kristallkugeln. Und wenn wir diese Kunst selbst nicht so gut beherrschen, gucken wir uns dazu besonders Befähigte aus. Das machen die Kambodschaner ganz genauso. Von den Vorhersagen der königlichen Ochsen während der jährlichen Pflügezeremonie zu Beginn der Reispflanzzeit hatte ich schon berichtet: Die Deutung der Ochsen-Omen obliegt den Wahrsagern vom Königshof. Die sind Brahmanen-Priester, eine Einrichtung aus der vorbuddhistischen Zeit und heutzutage besonders zum Neujahrsfest der Khmer im April gefragt. So sagte Im Borin, Chef-Hofastrologe des amtierenden Königs Sihamoni, in diesem Jahr die Lage der Nation wie folgt voraus: Das Jahr der Ratte, von der Göttin Thungsakdevi beherrscht, wird nichts Gutes bringen – es wird zuviel Regen geben, der Salzpreis steigt, und die Ehefrauen "höherrangiger" Regierungsangestellten werden von Eifersuchtsanfällen geplagt. Zu ersterem lässt sich zu Beginn der Regenzeit noch keine Aussage machen, letzteres entzieht sich auch meiner Kenntnis, aber die Preissteigerung von Lebensmitteln ist bereits eingetroffen.


Lon Nol, der General, der 1970 den kambodschanischen König absetzte und das Land sowohl verstärkt in den Vietnamkrieg (auf amerikanischer Seite) hineinzog als auch in den intensivierten Bürgerkrieg (mit den Roten Khmer), welcher schließlich mit Pol Pots Herrschaft endete, soll 1972 monatlich über 20.000 US$ für Wahrsagerdienste bezahlt haben. Wir wissen nicht, was ihm prognostiziert worden ist - aber wir wissen, dass er sich rechtzeitig ins Ausland absetzte, um den Roten Khmer nicht in die Hände zu fallen. Wahrsagerdienste hatten in Kambodscha schon immer Konjunktur.


Meine zukunftsgerichtete Frage ist natürlich keine zu Leben und Tod. Trotzdem messe ich der Antwort großes Gewicht bei. Deshalb lasse ich mich von meiner Lehrerin durch die Wirrnisse des Orussei-Marktes schleppen. Das ist einer dieser Märkte, die kahle Betongaragen-Räumlichkeiten in Tausendundeine-Nacht-Basare verwandeln, in denen es alles gibt von gerösteten Heuschrecken über rosa Schnürkorsetts bis hin zu Sandelhoz-Buddha-Amuletten - und genau in dieser Anordnung nebeneinander - und in denen man, wenn man mit meinem Orientierungssinn geschlagen ist, bis ins Rentenalter umherirren kann. Aber da ich eine wendige Einheimische bei mir habe, verkürzt sich der Weg ungemein, und wir stehen bald vor einem Plastiktisch mit karierter Decke.


So hatte ich mir meine Wahrsagerin vorgestellt. Sie trägt über dem fülligen Busen eine schwarzrote Blümchenbluse; alles wackelt, wenn sie lacht - und sie lacht viel, vor allem über mich und mein ungläubiges Staunen. Aber dazu kommen wir später. So betrachte ich zunächst neugierig ihre Goldzähne und die Diamantringe, die Zeugnis von ihrem Erfolg in der Branche ablegen und für Vertrauen bei der Kundschaft sorgen. Ich setze mich an ihr Tischchen auf einen Plastikhocker in Kniehöhe. Meine Lehrerin erklärt mir, dass mir hier die Zukunft aus grünen Blättern gelesen wird. Aus einem Körbchen darf ich mir eine Anzahl heraussuchen, die die Wahrsagerin in eine lange Reihe legt und aufmerksam studiert.


Zuerst bekomme ich Allgemeines und reichlich Vages über mich zu hören. Das fängt so an: Wenn ich verheiratet wäre, dann hätte ich zwei Kinder. Das ist nun keine so brillante Aussage für eine erfolgreiche Flora-Astrologin: Was heißt denn da "wäre"? Also, das müsste sie mir doch sofort ansehen ... Ich runzele die Stirn und will ihr nun endlich meine Frage stellen. Denn das mit den Kindern weiß ich selber wohl besser. Aber ich komme nicht zum Fragen. Denn plötzlich lacht sie, der Busen wogt, sie beugt sich nach vorn, mit verschwörerischem Augenaufschlag. "Nein", sagt sie (über meine dolmetschende Lehrerin), schlicht: "Nein." Und dann sagt sie mir die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe, zur Antwort, die sie mir schon gegeben hat. Einfach so. Jetzt bin ich doch perplex. Ich muss reichlich blöd aussehen, denn meine Lehrerin und meine Wahrsagerin lachen laut und reden eifrig miteinander auf Khmer. Mit einem so entschiedenen Nein habe ich nicht gerechnet. Mal sehen, wie ich auf meine Zukunft gestaltend einwirken kann. Ist da vielleicht doch ein klitzekleines Ja im Nein? Kann ich selber etwas dazu beitragen, um das Nein in ein Ja zu verwandeln? Jetzt wird meine Wahrsagerin ernst und sehr streng. Sie schüttelt den Kopf und hebt abwehrend die Hände: NEIN! Ich kann sie zu keiner anderen Aussage bewegen.


Ich sitze verdattert auf dem Plastikstühlchen. Meine Wahrsagerin will für ihre Dienste 6.000 Riel. Der Fall ist damit abgeschlossen, für sie jedenfalls. Ich gebe ihr zwei US$, also einen 25%igen Aufschlag, was sie freut, aber nicht zu geänderter Interpretation veranlasst. Eine nicht korrumpierbare Wahrsagerin ... Ich stehe sehr langsam auf. Meine Lehrerin hat den Eindruck, dass sie mich trösten und sogar stützen muss. Was für ein merkwürdiges Gefühl hat mich da gerade erwischt! Tja, die Wahrheit liegt in den grünen Blättern, vielleicht. Demnächst werde ich erfahren, wie weit ich kambodschanischen Wahrsagerinnen vertrauen kann - und das werde ich euch natürlich wissen lassen.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 27. Juni 2008.


© Mimi Productions

Ein Ausflug in die Vororte von Phnom Penh

Mai 2008.


Ein Ausflug in die Vororte von Phnom Penh.
Die Müllhalde von Stung Mean Chey.





Mit meinem Tuk-Tuk-Fahrer, Herrn Thi, habe ich über die Monate ein Ritual entwickelt: Wir machen gemeinsam regelmäßige Wochenend-Ausflüge in die unmittelbare Umgebung von Phnom Penh. Meist sind das Orte, die Herr Thi noch nie gesehen hat und über die ich auch recht wenig weiß. Für uns beide gibt es bei diesen kleinen Reisen oft überraschende Momente, doch selten Enttäuschungen, weil ich Herrn Thi inzwischen erfolgreich überzeugt habe, dass er einfach mal nach dem Weg fragen kann und dass das keine Schande ist. Und so kommen wir zumeist ohne längere Umleitung am Ort unserer Wahl an.


Das Wochenend-Ritual läuft gewöhnlich so ab: Am Freitagnachmittag schickt mir Herr Thi per SMS seine Anfrage, diskret verpackt. "good morning mrs hov are you today? are you working dismorning? thanks see you soon" Ich texte zurück: Ob er mich vielleicht am Sonnabend um 9 Uhr von zu Hause abholen könne? Dann erreicht mich in Windeseile seine Antwort: "noprvlem", womit gemeint ist, dass er das natürlich unproblematisch einrichten könne. Ich weiß inzwischen: Er bringt seine Frau gegen 8 Uhr in die Textilfabrik und ist danach frei.


In diesem Mai hat es erstaunlich wenig geregnet, deshalb begeben wir uns weiterhin auf staubige Straßen. Doch diesmal wird es nicht nur ein staubiger Ausflug, denn ich will mir einen Ort angucken, der normalerweise nicht auf der touristischen Agenda steht: die Müllkippe von Stung Mean Chey, vor den Toren der Stadt. Dafür gibt es einen aktuellen Anlass: Phnom Penh stinkt in den Mai-Himmel, noch mehr als üblich. Wir haben Verhältnisse wie in Neapel. Allerdings scheinen die Ursachen weniger mafiöser Natur zu sein, aber wer kann das schon wissen. Jedenfalls ist der Gouverneur von Phnom Penh sauer auf den privaten Stadtreiniger Cintri. Es stinkt ihm im Sinne des Wortes, und er droht der Firma, dass Angestellte der Stadtverwaltung eingesammelte Abfälle auf dem schmucken Cintri-Firmenrasen zwischenlagern würden, wenn nicht sofort etwas passierte. Das Ultimatum läuft am 23. Mai ab.


Cintri schloss mit der Stadtverwaltung im Jahr 2002 einen Vertrag für den Zeitraum von 49 Jahren, mit dem Inhalt, 90 % des städtischen Mülls zu beseitigen. (Die Vertragsdauer kommt mir außergewöhnlich lang vor - doch sollte ich sie als positives Zeichen deuten: als Beweis für das Vertrauen in die Beständigkeit des hauptstädtischen Lebens, die Effizienz der Stadtverwaltung und die Effektivität der Privatwirtschaft.) Doch seit Vertragsbeginn ist zwischen Stadt und Stadtreinigung ungeklärt, in wessen Verantwortungsbereich die Müllkippe und die Zufahrtswege fallen. Ein Entwicklungshelferkollege erzählte mir, dass vor ungefähr zehn Jahren kambodschanische Abfallexperten in Deutschland ausgebildet worden seien. Denn Müll ist ja nicht gleich Müll, vielmehr eine wahre Wissenschaft, was wir spätestens mit der Einführung des grünen Punktes und der gelben Tonne gelernt haben. Nach Rückkehr in ihre Heimat sollten diese Experten sich auch um die Mülldeponien von Phnom Penh kümmern. Doch was der Cintri-Geschäftsführer über den Zustand der Abfalldeponie zu sagen hat, klingt nicht nach Entwicklungshilfeerfolg: Die Deponie entspreche nicht internationalen Standards. So seien die Zufahrtsstraßen so uneben, dass regelmäßig Müllfahrzeuge umkippten, während andere sich platte Reifen holten wegen des hohen Anteils an "Altmetall auf den Straßen". Was der Cintri-Geschäftsführer nicht erwähnt, sind die Menschen, die den Abfall ihren Arbeitsinhalt und die Mülldeponie ihren Arbeitsplatz und ihr Zuhause nennen.


Schon morgens schrecken sie mich aus dem Schlaf: die Lumpensammler von Phnom Penh. Denn tatsächlich gibt es hier ein Mülltrennungssystem, wenn auch rudimentär; Flaschen, Dosen und Papier werden gesondert eingesammelt. Einzeln ziehen sie mit ihren Holzkarren durch die Straßen und machen auf sich aufmerksam mit einem speziellen Lumpensammler-Erkennungston. Der wird mit einer Plastikflasche produziert, die, zwei- bis dreimal zusammengedrückt, Laute hervorbringt wie ein gelbes Badewannen-Quietsche-Entchen, bloß viel eindringlicher. Im Karren wird alles transportiert, was man für den Tag braucht: ein Getränk, eine Plastiktüte mit bereits gekochtem Reis, ein Schweißtuch, eine Waage für das Gewicht des Sammelgutes, schließlich das Sammelgut selbst. Es sind viele Frauen unterwegs, manche haben ihr Kind in den Karren gesetzt. Einer dieser kleinen Schmutzfinken streckt mir strahlend die Plastikpuppe entgegen, die die Mama wohl aus dem Müll gefischt hat. Die Puppe hat blonde Locken und blaue Augen und wird nach der Vorzeigeaktion sofort wieder von ihrer kleinen Puppenmutter fest an die Brust gedrückt. Glück ist eine Puppe im Arm und eine Mama in der Nähe ...


Herr Thi muss mehrmals nach dem Weg zur Müllhalde fragen. Plötzlich sind wir da - kein Zaun, keine Mauer, keine Einlasskontrolle. Wo sich die ungeplasterte Straße leicht anhebt, hinter einfachen Häusern und Holzhütten, erstreckt sich die Müllkippe: so weit das Auge reicht - eine hügelige Landschaft aus alten Plastiktüten - farbenfrohe Fetzen und graue Masse, Undefinierbares, baumlos, aber sehr lebendig - auf dem Müll wird gelebt. Ich verlasse meinen bequemen Platz hinter Herrn Thi und laufe den Weg hinauf. Wie ein Eindringling fühle ich mich und wie ein Voyeur. Ein Junge, dessen Alter ich nicht schätzen kann, hockt am Boden und zieht mit einem Metallgegenstand aus einem Holzbrett Nägel, die er neben sich aufreiht. Zwei Männer in Gummistiefeln und Topfhüten grinsen mich an. Sie stehen an einem Wägelchen, einem Verkaufsstand auf Rädern, hinter dem ein dicker Khmer Sirup auf klein gestoßenes Eis tropfen lässt: Er ist der Eismann der Müllkippe. Ein paar Meter weiter brät eine Frau Nudeln auf einer kleinen Pfanne, es ist Mittag. Zwei nackte kleine Jungen gucken mich fast ängstlich an und klammern sich aneinander, der eine ballt die linke Faust um einen gelben Keks. Den Weg hinauf ziehen Karren mit Sammelgut. Dann rumpelt ganz langsam, eine große Staubwolke hinter sich lassend, ein grüner Cintri-Müllwagen an mir vorbei. Hoffentlich kippt er nicht um. In einer Holzhütte, eigentlich einem Bretterboden auf Stelzen mit einem Wellblechdach darüber, ohne Wände, sitzen zwei alte Frauen und beobachten mich mit ausdruckslosen Gesichtern.


Und überall wuseln Menschen herum, die Teile der Deponie umschichten, umdrehen, umpflügen, manchmal mit Schaufeln, Latten oder Metallstangen, manchmal mit bloßen Händen. Nach welchem System der Müll hier "bearbeitet" wird (wenn denn der Aysdruck "Bearbeitung" überhaupt zutrifft), erschließt sich mir nicht. Was ich aber deutlich erkennen kann: Es wird gearbeitet.


Inzwischen hat sich der Himmel zugezogen. Die graue Landschaft wirkt noch grauer. Es regnet bald in feinen Tropfen, niemand außer mir scheint das wahrzunehmen. Ich habe einen guten Grund, zu Herrn This Tuk-Tuk zurückzulaufen. Der Weg ist bald feucht und glitschig, keine schöne Vorstellung, hier auszurutschen. Ich achte sorgfältig darauf, wohin ich die Füße setze. So fällt mein Auge auf ein chinesisches Schriftzeichen, aufgedruckt auf etwas, das früher vielleicht einmal ein Sack war. Das Zeichen ist das einzig für mich Entzifferbare, Verstehbare in der großen Dekonstruktion um mich herum. Es heißt "xiāng", 香, auf deutsch "Duft". Ja, erstaunlich - gestunken hat es hier nicht. Oder habe ich einfach nicht aufgepasst?


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 11. Juni 2008.


© Mimi Productions

Drei einfache körperliche Phänomene

April 2008.


Drei einfache körperliche Phänomene.
Ich bin bedingt tropentauglich.





Angeblich gewöhnt der Mensch sich an alles. Ich solle mich mal nicht so anstellen, das mit der Akklimatisierung brauche Zeit, gelinge aber immer: So sagten mir weitaus längerfristig hierlebende Nicht-Kambodschaner. Ich will ja nicht rechthaberisch sein, jedenfalls nicht dauernd: An manches gewöhne ich mich keineswegs. Ob ich will oder nicht, mein Körper macht einfach nicht alle Anpassungsprozesse mit. Das stelle ich im hitzeintensiven Monat April, meinem inzwischen zweiten, zu meiner Selbstbestätigung, mit partieller Zufriedenheit, fest. Na bitte, dahamwirs, habbichjagleich ... und so weiter.


1. Phänomen: Ich verflüssige mich.
Ein ganz normaler Arbeitstag, Mitte April. Ich sitze zur gewohnten Zeit, um 6.30 Uhr, mit meiner Teetasse am Frühstückstisch und gucke mir zu. Auf meinem T-Shirt entsteht ganz von selbst und kreisrund der erste Schweißfleck des Tages. Es fäng mit etwas Kribbeln an (als naturwissenschaftlich versierte Beobachterin greife ich noch nicht ein) und wird dann langsam immer sichtbarer als dunkles Rund auf der Baumwolloberfläche. Natürlich lässt sich das Phänomen auch direkt in seiner Entstehung erleben. Ich setze also die Teetasse ab, hebe das T-Shirt und betrachte meinen Bauch: Es ist wie bei der Geburt einer Quelle. Es tut sich was im Untergrund, es dringt hervor. Das Kribbeln verdichtet sich zu kleinen Perlchen, die sich zunächst an der Epidermis festklammern und schließlich, von der Schwerkraft besiegt, ein zögerliches Rinnsal bilden. Nun muss ich doch aktiv werden: Nichts ist unangenehmer als eine feuchte Unterhose, bevor das Frühstück eingenommen ist. So wische ich mit meinem Schweißtüchlein, meinem wichtigsten Utensil nach der Brille, hier und da, während es inzwischen an anderen Stellen zu ähnlichen Quell-Reaktionen kommt. So tropft es in die Ohren und rinnt mir in den Nacken. Im Monat April braucht mein dünnes Haar Stunden zum Trocknen. Sobald ich mein klimatisiertes Büro erreiche, setzt jedoch der Normalisierungsprozess ein: Eine Totalverflüssigung habe ich zum Glück noch nicht erlebt.


2. Phänomen: Ich bin ein Lebensmittel.
Dass wir Menschen immer denken, wir wären am Ende der Nahrungsmittelkette und uns könnte keiner, ist eine lächerliche Fehleinschätzung. Ich jedenfalls bin ein überaus beliebtes Nahrungsmittel, ein permanent nachwachsender Rohstoff, eine Vor-, Haupt- und Nachspeise für sämtliche Moskitos der Umgebung. Es gibt Abende, da kann ich einfach nicht mehr, außer vor Wut heulen: Ich will nicht mehr angeflogen, bekrabbelt, gepiekst und ausgesaugt werden! Ich will nicht mehr Anti-Mückensprays auf meinen Schienbeinen und Anti-Moskitocreme auf den Armen haben - ich will einfach nur in Ruhe vor mich hinsitzen, gern auch draußen, denn es ist ja eine dieser lauschigen Nächte, wo das Thermometer noch oberhalb der 30 Grad-Marke weilt und nach denen wir uns in der kalten deutschen Heimat so sehnen. Aber hier habe ich keine Ruhe: Die Insektenwelt hat sich bereits das Lätzchen umgebunden und stürzt mit erhobenem Besteck auf mich zu. Seufz. Will ich nicht aufgefressen werden, bleibt mir die Wahl zwischen Autan ("kühlt und erfrischt die Haut") für draußen und Raid ("fast kill everywhere with Lemon Fragrance") für drinnen. Was hätten Sie gewählt ...


3. Phänomen: Ich v e r l a n g s a m e.
Früher hielt ich mich für eine geborene Rennmaus. Treppensteigen war mir unproblematisch, und "ich komme mal geflitzt", war keine Redewendung, sondern meine liebste Fortbewegungsmethode. D e m i s t n i c h t m e h r s o. Bei steigenden Temperaturen fange auch ich an, die Langsamkeit zu entdecken und auf einheimisch z u l a t s c h e n und z u s c h l ü r f e n. Auch wenn es nicht schweißtreibend wäre: Selbst wenn ich wollte, ich könnte mich gar nicht schnell bewegen. Ein natürlicher Selbstschutz setzt ein, der nicht nur die Waden vor der Überhitzung rettet, sondern vor allem das Gehirn. Das Empfangen und Senden von Nachrichten reduziert sich ohne mein bewusstes Zutun auf ein Minimum. Ich verstehe plötzlich, warum meine hiesigen Rechnungsprüferkollegen ab Khmer-Neujahr keine Dreisatzaufgaben mehr lösen können (wenn sie denn überhaupt das Mathematik-Problem an sich erkennen). Das Gehirnkastel wird vor allzu viel Akrobatik geschützt, das Programm schaltet sich jetzt um - auf freundliches Grinsen. Was ich noch sagen wollte ... Wahrscheinlich wollte ich ja nichts sagen. Ich lächele euch einfach freundlich zu, betrachte die Mücke auf meinem Handrücken (was sie da wohl zu suchen hat?) und lasse den Schweißtropfen von der Nase perlen.


Wenn die gelben Blütentrauben der Straßenbäume mein Auge erzücken und die unreifen Mangos des Nachbarn mit Gepolter auf mein Dach fallen, dann tue ich mich schwer mit dem April. Er ist in Kambodscha des Jahres heißester Monat.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 27. April 2008.


© Mimi Productions

Der Gott der Betonformteile

März 2008.


Der Gott der Betonformteile.
Ein Ausflug in Kambodschas Sakral-Bauindustrie.





Es muss einen geben – und der ist mit Sicherheit Kambodschaner: der Schutzgott der Betonindustrie. Da ich seiner offenbar als erste gewahr geworden bin, darf ich ihm auch einen Namen geben. Das ist schlieβlich das Verdienst eines jeden Entdeckers. Ich nenne ihn also: Preah Beton. “Preah” ist ein schönes Khmer-Wort und bedeutet soviel wie heilig oder göttlich. Die Eigenschaft der Heilig-Göttlichkeit fängt bereits bei der königlichen Familie an und hört beim Buddha auf, dem Preah Bodh. Der Premierminister, der schon andere Ehren-Titel trägt, wird von diesem zur Zeit noch ausgeschlossen. Das kann sich schon bald ändern. Im Juli wird gewählt. Geht alles erwartungsgemäβ vonstatten, dann werden die Regierenden fester als jetzt im Sattel sitzen, und wer weiβ, was dann noch heilig bleibt und bald schon göttlich wird. Preah Beton derweil wacht über die Zementierung des Landes.


Täglich finde ich neue Spuren seines vielfältigen Wirkens. Sein Einsatzort: überall im Königreich. Sein Spezialgebiet: Formteile. Sein Lieblingsprodukt: Buddha-Statuen und ähnlich Sakrales. Sein bevorzugtes Protektorat: Tempel-Neubauten und Tempel-Renovierungen (Innenräume und Auβenflächen). Obwohl auch Profanbauten sich gern unter seinen Fittichen scharen, werde ich diesen Aspekt für heute auβer Acht lassen müssen. Er erfordert spezielle Untersuchungen und soll ein anderes Mal behandelt werden. Eine hochinteressante Baustelle habe ich mir dazu schon ausgeguckt, an der Phnom Penhs erster Wolkenkratzer entsteht, geplant mit bescheidenen 42 Stockwerken. Für diesen “Gold Tower 42” lautet der Spruch aus der Werbung (wiedergegeben im Original-Englisch): “The world class skyscraper of residence!” Doch bei über 3.300 bereits fertiggestellten und unzähligen in Bau befindlichen Pagoden erübrigt sich eine Erweiterung meines Untersuchungsobjektes ohnehin.


In einem Land ohne Kirchensteuer, mit vielen gläubigen armen und wenigen sehr reichen Menschen steht das Mäzenatentum für Tempel und Klöster hoch im Kurs. Jeder spendenfreudige Buddhist und jede spendenfreudige Buddhistin interessiert sich ganz nebenbei fürs eigene Beste: So vergröβern sich die Chancen, im nächsten Leben als höhere Lebensform, vielleicht als Säugetier, ja gar als Mensch wiedergeboren zu werden. Ich selbst war im letzten Jahr Augenzeugin einer Sammelaktion für einen Wat und staunte nicht schlecht, als die vielen Scheine ausgezählt waren und die immense Summe von 40.000 US$ (in Worten: vierzigtausend US-Dollar) ergaben. Und all dies Geld, zumindest der gröβte Teil davon, fand seinen Weg in die Betonmischmaschine der Mönche! Der Rohbau einer groβen Halle thront inzwischen über der Tempelanlage.


Ich danke der deutschen Zement- und Betonindustrie für die simple Erklärung, warum Beton sich in Kambodscha so großer Beliebtheit erfreut: “Das Grundrezept für Beton ist einfach, und was man für ihn braucht, das liefert die Natur: Zement aus Kalkstein und Ton und als so genannte Gesteinskörnung Sand und Kies und schließlich Wasser. Der Zement spielt dabei die entscheidende Rolle, denn er bildet zusammen mit dem Wasser den Zementleim, der die Gesteinskörnung verbindet und dadurch erst ein hartes Gestein entstehen lässt.” Die Altvorderen der Khmer leerten ihre Steinbrüche schon vor achthundert bis tausend Jahren für Hindugötter- und Buddha-Behausungen, schufen damit das beeindruckende Weltkulturerbe von Angkor und initiierten zugleich eine bis heute andauernde Nachfrage für Kunststein. Denn das einst waldreiche Kambodscha wandelte seine schönsten und größten Bäume längst in revolutionäre AK-47, in nachrevolutionäre japanische Autos und in neuzeitige koreanische Elektrogeräte um, was auch den klassischen Baustoff Holz hat rar werden lassen. Nun bieten sich heimischer Kalk, Ton, Sand und Kies zur Ausbeute an, und zu ihrer Gewinnung verschwinden bereits überall im Königreich die kleinen Berge: Sie werden einfach abgebaggert und zu Beton verarbeitet, damit bald jedes Dorf seinen eigenen Wat besitzt, vielleicht auch zwei oder mehr, je nach Spendenfreudigkeit. Ich bin kürzlich von Phnom Penh nach Battambang gefahren und konnte es rechts und links der Nationalstraße 5 gut beobachten: Ein Tempel-Eingangsbogen (aus Betonformteilen) folgt dicht auf den anderen; die kleinen, ringsum verstreuten Hügelchen, längst schon entwaldet, sind zur Hälfte abgetragen und werden sich bald dem Land der Reisfelder angleichen, das sich platt und überschaubar bis zum Horizont erstreckt, von nur wenigen Königspalmen überragt.


Nun will ich keineswegs einem betonsparenden Atheismus zum Munde reden: Das buddhistische Kambodscha erfährt durch seine Pagoden eine unschätzbare Bereicherung, weil diese nicht nur der Besinnung und der Buddha-Verehrung dienen, sondern auch Zufluchtstätten für Mittellose, Alte und Kranke sind, Gemeinschaftszentren für die Dorfbevölkerung, Bildungsstätten für Kinder und Wissbegierige. Doch wenn ich all diese Bauaktivität sehe, dann zweifle ich die Maxime an: Beton unter allen Umständen! Beton unter allen Umständen? Und so viel davon? Auch wenn einfacher, kostengünstiger, haltbarer oder schlicht ästhetisch ansprechender produziert werden könnte? Es wird fast ohne Ausnahme alles aus Beton gemacht, möglichst gern als praktisches Formteil: die Tempelmauereinfassung und die Dekorationsteile auf der Mauerkrone, die karyatidengleichen Figürchen, die an den Hallenwänden hängen und die Dächer mit dünnen Ärmchen zu stützen suchen, die Schmuckbänder der Stupas. Dabei werden die Muster der Altvorderen aus Angkor eingehalten, denn hier lebt in allem die Wiederholung des ewig Gleichen, gern auch simplifiziert: So sind alle Tempel-Anlagen mit identisch aussehende Nagas (Wasserdrachen) verziert, und die Buddha-Statuen scheinen geklont. Unbeschränkt Phantasievolles ist nur bei Ausflügen in den Nicht-Khmer-Mythenraum erlaubt, z.B. bei der Fabrikation von Meerjungfrauen (!), griechischen (!) Athleten und chinesischen Fabeltieren (!), die – aus mir nicht nachvollziehbaren Gründen – Eingang in den Tempel-Skulpturengarten gefunden haben. Qualitätsansprüche ans Material zu stellen, wäre allerdings verwerflich. Die deutschen Normen erfordern schlieβlich ein ernsthaftes Ingenieurstudium, dafür ist es hier viel zu heiβ. So lugen nach wenigen Jahren in kambodschanischer Tropensonne und Monsunregen die Drahtkonstruktionen aus zerbröselnden Artefakten, deren Entstehungsjahr und Stifter fein säuberlich an sichtbarer Stelle (für die Nächstleben-Statistik) vermerkt sind; die Oberflächen platzen auf, und Wehmut stellt sich bei der Betrachtung ein ob dieser längst verblühten Schönheit. Allein, es wird neu produziert, neue Spender sind zur Stelle, und neues Beton wird neben altes Beton gestellt, auf dass einem möglichen Horror vacui schnellstmöglich vorgebeugt sei.


Ich wiederhole mich: Ich habe an sich nichts gegen Beton. Es ist alles eine Frage der Menge. Die deutsche Zement- und Betonindustrie lobt ihn als “Baustoff des 20. Jahrhunderts”, der “beeindruckende Ingenieurleistungen vom höchsten Gebäude der Welt über gigantische Staudämme bis hin zu Brücken von früher unvorstellbaren Spannweiten” ermöglicht habe und ein “Werkstoff weltberühmter Architekten” sei, die damit “Aufsehen erregende Bauwerke” geschaffen hätten. Und schlieβlich erfreue Beton ja “auch im Kleinen” – “sei es als Gestaltungselement für den Garten, als Kunstobjekt oder Heizkörper”. Nun, mit Heizkörpern zumindest hat man es hier nicht so. Doch wenn die deutsche Zement- und Betonindustrie vorausschauend urteilt: “Die Chancen, dass Beton auch der Baustoff des 21. Jahrhunderts wird, stehen gut”, so kann ich nur zustimmen. Kambodschas Sakral-Architektur spricht für sich: kein Zweifel, Preah Beton ist der erfolgreichste Schutzheilige dieses Landes.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 8. April 2008.


© Mimi Productions

Die Ratte kömmet

Februar 2008.


Die Ratte kömmet.
Ganz Phnom Penh im Chinatown-Kostüm.





Inzwischen habe ich einen Mehrzweck-Kalender in Mehrfach-Sprachen. Die Neujahrserfahrungen des vergangenen Jahres, über die ich in meinem April-Bericht nachdachte, waren der Anlass für diese überaus nützliche Anschaffung: Ein nur auf den ersten Blick simpler Abreisskalender informiert mich täglich über das Datum (laut gregorianischem Jahr, Khmer- Buddha-Zeitrechnung und chinesischem Mondkalender) und gibt mir wesentliche Lebenshilfen ("Drachen-Geborene müssen heute besonders vorsichtig sein - der Tag ist als Hunde-Tag für Drachen inkompatibel", "Heute nicht zum Friseur gehen – der Mond verbietet Haarschnitt und Hochzeit" – wir kennen das aus dem Bäckerblumen-Horoskop und wissen damit hinreichend Sinnvolles anzufangen). Leider sind die täglichen Überlebenstipps nicht ins Englische hinübergerettet – aber inzwischen besitze ich ausreichend Lehrpersonal, das mich bei der praktischen Umsetzung aus Khmer-Nudelschrift und China-Langzeichenpinselei berät. Ich fühle mich in geradezu leichtsinniger Weise polyglott.


Der 7. Februar 2008 leuchtet mich aus meinem Kalender in ekstatischen roten Zeichen an: CHINESISCH!!! NEUJAHR!!! Das 2007er Schwein darf zurück ins Schlammbad; der neue Zwölf-Jahreszyklus beginnt 2008 mit einem Nager, der in der deutschen Übersetzung sowohl "Maus" als auch "Ratte" heiβt. Den Chinesen ist das eine wie das andere "lăo shŭ" 老鼠. Und siehe da – kurz vor dem Festtag hängen Micky- und Minimaus-Papierbildchen an Heim und Hof und bebrillte Leseratten-Konterfeis bei den Nachbarn, anything goes.


Plötzlich entdeckt Phnom Penh seine chinesischen Familienbande. Wie flächendeckend hier das chinesische Neujahrsfest gefeiert wird, war mir im letzten Jahr so gar nicht aufgefallen. Auf einmal ist jeder Phnom Penhese irgendwie mit chinesischen Vorfahren oder engsten Verwandten gesegnet, was sich (und/oder/auch) mit den drei Feiertagen (mehr oder weniger offiziell, aber rot in meinem Kalender vermerkt) erklärt. Rote Papierlampions schmücken sogar die kleinste Hütte, Spruchbänder mit Wünschen für ein langes Leben und viel Gesundheit (in goldenen chinesischen Schriftzeichen) kleben rechts, links und über den Eingängen von Geschäftsräumen und Wohnungen.


Man muss sich auf die Festlichkeiten gut vorbereitet haben, sonst wird man böse überrascht: Die Feiertage werden auch von den Straßenhändlern und Restaurants wahrgenommen, und das heisst: (Fast) alles wird dicht gemacht für eine gute Woche. Wer sich nicht auf Vorrat versorgt hat, mag vor der verschlossenen Tür des Lieblingsrestaurants mit leerem Magen (ver)enden. Auf dem O'Russei-Markt sind die Händler zu 95 % Sino-Khmer und beim Olympischen Markt zu 80 %. Von den 2.800 Händlern des bekanntesten Marktes in Phnom Penh, dem Psah Thmei (Touristen ist er unter dem Namen "Central Market" bekannt), wollen die meisten über die Feiertage nicht arbeiten, egal, ob chinesisch verbandelt oder nicht – so die englischsprachige Tageszeitung "The Chambodia Daily" vom 7. Februar 2008. Dafür machen die, die ihre Stände geöffnet halten, gute Geschäfte: Ich staune nicht schlecht, als meine Drachenfrüchte plötzlich doppelt soviel kosten sollen wie sonst. "Chinese New Year!", grinst die Verkäuferin, sie hat das Monopol und ich das Nachsehen.


Meine Khmer-Lehrerin Kamrang hat natürlich auch ganz viel chinesisches Blut, die Großmutter kam aus China, und so weiss Kamrang auch, wie "die" Chinesen in Kambodscha ihr Neujahrsfest begehen. Sie hat Glück: Sie wohnt in Takmao, vor den Toren von Phnom Penh, wo einer der grössten chinesischen Tempel der Region seine Dienste anbietet. Bevor ich mich dorthin begebe, betreibe ich ein wenig chinesische Ahnenforschung.


Kambodscha beherbergt chinesische Gäste und Einwanderer seit ungefähr 2.000 Jahren, so dass Chinesisches in diesem südostasiatischen Land mehr oder weniger versteckt überall anzutreffen ist: im Aussehen seiner Menschen, in der Kleidung, auf dem Speiseplan, in der Sprache und auf den Blechschildern der Läden. Es gibt berühmte Reiseberichte wie die von Zhōu Dá Guān周达观, der das Land im Auftrag seines Kaisers um 1296 n.Chr. bereiste. Angehörige von fünf Dialektgruppen aus Südchina nennen Kambodscha seit langem ihre Heimat: Teochiu, 潮洲(cháozhōu); Kantonesen, 广东 (guăngdōng); Hainanesen, 海南 (hăinán); Hokkien, 福建 (fújiàn); und Hakka, 客家(kèjiā). Alle brachten ihre unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten mit und versuchten, sie zu erhalten. Nach Unterdrückung und Verfolgung unter dem Lon Nol-Regime und Pol Pots Khmer Rouge gründeten sie inzwischen neue Schulen und landsmannschaftliche Vereine und eröffneten ihre Tempel wieder. Doch sprechen nicht mehr alle chinesisch, und das Beherrschen der Schrift ist auch nicht mehr selbstverständlich. Wenn die Kleinen auf eine der vielen chinesischen Privatschulen geschickt werden, erlernen sie dort eher das Beijinger Hochchinesisch anstatt eines südchinesischen Dialektes.


Die Volksrepublik China gehört zu den gröβten Geberländern in der hiesigen Entwicklungszusammenarbeit, macht dies aber weniger publik als die anderen. Der kambodschanische Ministerpräsident muss sich ihr gegenüber zu Menschenrechtsverstöβen und dem Fehlen eines Anti-Kooruptionsgesetzes nicht erklären, nur auf die Einhaltung der Ein-China-Politik im Hinblick auf Taiwan legt der groβe Nachbar Wert. Zum Monatsbeginn stattete der chinesische Auβenminister Yang Jiechi dem Land einen Besuch ab, und es wird gemunkelt, dass der kambodschanische Informationsminister sich täglich in die chinesische Botschaft zum Lunch einladen lässt.


Ich nehme ein Tuk-Tuk nach Takmao, eines dieser ganz wunderlich-praktischen Beförderungsmittel aus Motorrad-cum-Anhänger, mit denen man überall in Südostasien innerhalb eines 50 km-Perimeters wunderbar verkehren kann. Mein Tuk-Tuk-Fahrer, Herr Thi, mit niemand aus China verbandelt und insofern für diese Fahrt kulturell neutral, hat natürlich keine Ahnung, was es in Takmao alles an wunderbaren Orten gibt. Von einem großen chinesischen Tempel dort hat er noch nie etwas gehört. Das ist absolut normal. Solche Unwissenheit stört weder Fahrer noch Fahrgast. Doch damit aus den geplanten 20 motorisierten Minuten keine langen Stunden werden, muss ich darauf beharren, dass mein Tuk-Tuk-Fahrer nach dem Weg fragt. Das macht er nicht so gern, ich weiss. Dabei ist es – wie sich bald herausstellt - gar nicht schwer: geradeaus nach Süden und am Fluss Tonlé Bassac entlang, bis es am rechten Straßenrand so richtig lebendig wird. Dort ist DER chinesische Tempel.


In China wird das Neujahrsfest leichtsinnigerweise "Frühlingsfest" genannt, obwohl es dann im Norden wie zum Beispiel Beijing noch empfindlich kalt und winterlich sein kann. Hier heisst es einfach nur "Chinesisches Neujahr" und findet bei hochsommerlichen Temperaturen statt. Die Tempelgötter in Takmao sind keine Buddhas, sondern südchinesische Lokal-Heiligkeiten und werden von ganzen Familien umlagert, die ich bei näherer neugieriger Betrachtung als nicht so besonders chinesisch empfinde. Es sind einfach auch sehr viele. Gern trampeln mir die lieben Kleinen auf den großen Zeh, sie haben ja sonst nichts zu tun – stille Andacht und inniges Gebet sind jetzt nicht auf der Agenda.


Es ist eh schon so heiss, und dann werden auch noch überall rote Kerzen angesteckt. In kleinen Öfen brennt goldbedrucktes Totengeld (damit sich die Verwandten im Jenseits mal wieder etwas leisten können) und hebt die Temperatur zusätzlich an. Die Weihrauchspiralen, die von der Decke hängen, verbreiten einen blindmachenden Rauch. Und so gerate ich im Gedränge in akute Atemnot. Ein junger Tempelangestellter, der ein wenig für Ordnung sorgt (er achtet darauf, dass umfallende Kerzen den bunten Gewändern der Tempelgötter fern bleiben), hat's richtig gemacht: Er trägt eine Sonnenbrille, an deren Bügeln er elegant einen nassen Waschlappen als perfekten Mundschutz befestigt hat.


Wieder zurück in Phnom Penh, geht das bunte Treiben weiter, aber punktuell, und ich muss gut aufpassen, will ich einen Löwentanz erwischen. Nur die sehr reichen Geschäftsleute engagieren zur Belustigung ihrer Kundschaft solche Löwentanzgruppen mit ganzen Spielmannszügen und lassen sie vor und in den Geschäften herumspringen. Das dauert dann ungefähr eine lustige Viertelstunde: Der Vorderteil-Löwentänzer schwingt den Pappmaché-Kopf wie ein sehr wilder Löwe sehr wild hin und her, während der Hinterteil-Löwentänzer versucht, den taktvollen Anschluss und seine andere Hälfte nicht zu verlieren. Wenn beide Tänzer (also der gesamte Löwe) ermattet sind, stellen die Musikanten ihre Paukerei und Gongerei ein, und alle ziehen zufrieden ab. Ich empfinde viel Bewunderung für solche Khmer-Löwen chinesischer Prägung: Bei Minustemperaturen ist dieses schweißtreibende Geschäft nicht halb so anstrengend wie in der Tropenhitze, bei einem Volk, das nicht einmal gern zu Fuß geht. Ich latsche glücklich heim und werfe einen abschlieβenden Blick in mein Jahreshoroskop. Dort steht: Die Erd-Ratte ist gut zum Wasser-Drachen, also mir. Mein Vermieter jedenfalls war schon gut zu mir. Auf dem Esstisch finde ich seinen Neujahrsglückwunsch und einen Teller mit Mandarinen. Die orangefarbene Schale der Früchte wird am Neujahrstag mit Gold und Reichtum assoziiert – so will mir mein chinesischstämmiger Vermieter fürs neue Jahr wünschen: gōng xĭ fā cái! 恭喜发财!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 3. März 2008.


© Mimi Productions

Die ganze Stadt auf Rädern

Januar 2008.


Die ganze Stadt auf Rädern.
Alles dreht sich um den fahrbaren Untersatz.





Morgens kann man Fußgänger in Phnom Penh beobachten. Sie sind nicht zu übersehen, denn sie tragen leuchtend orangefarbene Gewänder und - wenn das Wetter es erfordert, d.h. bei Sonnenschein und bei Tropenregen - strahlend gelbe Schirme. Der Anblick ist überall in Südostasien ein großes Vergnügen für die Touristen und harsche Realität für die Betroffenen: Buddhistische Mönche erbetteln sich ihr täglich Brot, also ihre Tagesration Reis. Was immer ihnen gegeben wird, wandert in ihren krugartigen Speisetopf. Den tragen sie am Gurt über der Schulter wie ich meine Handtasche. Sie müssen vor 12 Uhr mittags die letzte Mahlzeit, die für manche die einzige ist, gegessen haben und gehen deshalb zum Frühstückfassen früh aus dem Haus. Nach den strengen Ordensregeln dürften sie dabei nicht einmal Schuhwerk tragen. Doch zum Glück setzen sich die meisten in Phnom Penh darüber hinweg: Gesund kann nämlich ein Barfuß-Spaziergang über diese Gehwege und Fahrdämme nicht sein, die als flächendeckender Mülleimer betrachtet, aber weniger häufig als unsere Abfalltonnen daheim gesäubert werden. Abgesehen von den Mönchen, einigen Schulkindern, Bettlern, verträumten Urlaubern aus wohlhabenden Ländern und mir meidet der durchschnittliche Phnom Penhese den Gehweg, außer er sitzt bereits auf einem Fahrrad oder Moped, vorzugsweise in einem Auto, das gern auch etwas größer sein darf.


Warum der Kambodschaner nicht gern läuft – weder an sich noch spaziergangsmäβig zum Vergnügen - erklärte mir ein Kollege ziemlich plausibel: Zum Laufen ist es einfach viel zu heiβ. Ich kann das aus eigener, verschwitzter Erfahrung nur bestätigen. Aber ich – und da scheiden sich halt die Geister und die Körper – muss dem mir eigenen Bewegungsdrang nachgeben, ob das nun schweiβtreibend ist oder nicht. Die kambodschanische Diabetesgesellschaft stellte kürzlich fest, dass Bewegungsmangel, zuviel Salz und zuviel Alkohol zu einer Zunahme von Bluthochdruck- und Zuckerkranken in Kambodscha führen werden: Mehr als 10 Prozent der Über-20jährigen auf dem Land haben Anzeichen von sich entwickelnder Diabetes.


Eine kleine vergnügte Linkspartei verlor einmal die Berliner Wahlen, die für sie durchaus erfolgreich hätten verlaufen können, weil sie sich auf das Thema "autofreie Stadt!" versteift hatte. In Kambodscha käme niemand auf dieses Wahlmotto, weder in Phnom Penh noch in der Provinz ("autofreie Provinz!" – wie albern das klingt ...), jedenfalls nicht, so lange es überhaupt noch irgendwo Sprit gibt. Auch der Premierminister meinte doch wohl bloß scherzhaft, dass die Staatsdiener mit ihrem staatlichen Benzin sparsamer umgehen müssten. Wie sollte man sich ein von ihm angeregtes "car sharing" vorstellen – ein Minister im selben Vehikel wie eine Kindergärtnerin oder ein Grundschullehrer: Das soll doch wohl ein Witz sein, nicht wahr! Nein, nein, Seine Exzellenz wollte uns sicher alle mal wieder zum Lachen bringen, als er mit Blick auf die gestiegenen Rohölpreise am ersten Januarwochenende zum Sparen anregte.


Nach meinen inzwischen einjährigen Beobachtungen, bei denen ich auf vor langer, langer Zeit Gelerntes zurückgreifen konnte (mein erster Lebensgefährte war schließlich Autoverkäufer – da bekommt sogar jemand so Autotumbes wie ich einen Blick dafür!), hat Phnom Penh weltweit die höchste Dichte an Luxuskarrossen. Erst hier lernte ich, was ein Lexus ist: So heiβt die Edeltochter von Toyota, die sogenannte "Luxury Utility Vehicles" produziert. Hier verkauft sich das jeepartige Modell mit Allradantrieb sehr gern. Die kleine Variante RX ab 37.000 US$, die größere (die man weitaus häufiger sieht) kostet schon 67.000 US$ - vor Steuern und Einfuhrzoll, versteht sich. Aber beide Staatseinnahmen führen in Kambodscha sowieso ein Mickerdasein, weshalb auch viele Autos ohne Kennzeichen herumchauffiert werden. Und erst hier konnte ich einen Blick auf einen Hummer werfen. Letzterer ist in diesem Zusammenhang keine mit Mayonnaise genießbare Edelspeise, sondern das Lieblingsfahrzeug des kalifornischen Gouverneurs Arny Schwarzenegger. Es handelt sich um einen militärisch anmutenden Jeep, dessen Listenpreis sechsstellig ist (in US$, nicht in der Landeswährung Riel).


Doch es wird – so kann ich die Ökologen unter meinen Lesern beruhigen – nicht nur gefahren in Kambodscha. Besonders das Motorrad verkörpert ein beliebtes Sitzmöbel, das über auch Hängematten-Qualität verfügt. Wie schaffen sie bloß, beim Mittagsschlaf nicht abzustürzen, wenn sie sich auf ihren Mopeds ausgetreckt in ihre Träume versenken. Beeindruckend fand ich auch einen Studenten der Royal University of Cambodia auf der Honda mit seiner auf den linken Ellbogen gestützten Lesehaltung, die Beine elegant abgeknickt, die Schlappen sorgsam neben das Gefährt gestellt. Natürlich fand ich auch hinreiβend - abgesehen von der Haltung -, dass da jemand einfach so liest. Ich kann versichern: Es ist wirklich ein Buch, denn ich habe mich von der anderen Seite der Mauer an den Leser herangepirscht und zuerst nicht wahrgenommen, dass er auf seinem fahrbaren Untersatz sitzt. Von der bunten Welt der Motorrad-Taxis und Tuk-Tuk-Fahrer, der Schweinetransportmopeds (vier Ferkel passen da rauf oder zwei ausgewachsene Borstenviecher) und den Familienmopeds (alle sitzen hintereinander, inklusive Baby und Oma) werde ich ein anderes Mal erzählen.


Sehr überraschend und vertraut fand ich eines Abends nach Büroschluss eine Sechserkolonne von Fahrrädern, Marke „Fei Ge“ (Fliegende Taube), Herkunftsland: China, die – tatsächlich! der Klassiker der chinesischen Fahrradproduktion! - anachronistisch und wie selbstverständlich in die Einbahnstraße 51 in verbotener Richtung, doch in geordneter Formation einbog. Da zogen sie an mir vorbei, freundlich grinsende und laut schwatzende Chinesen, unverkennbar, in blauer Arbeitskleidung, einer pfiff vergnügt. Kurzzeitig glaubte ich mich im falschen Land - aber da sind sie schon entschwunden. Und kamen mir so lebendig vor, wie eine kleine verschworene und unerkannt gebliebene Kompagnie auf heimlichem Eroberungsfeldzug. Ob das den steif auf dem Moped und unbeweglich im Auto sitzenden Kambodschanern aufgefallen ist? Achtung, die Chinesen kommen, mit all ihrer Macht auf dem Fahrrad!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 6. Februar 2008.


© Mimi Productions