Wer auf dem Tiger reitet, kann nicht einfach absteigen

März 2009.


Wer auf dem Tiger reitet, kann nicht einfach absteigen.
Abschied und Ausblick.





Ich sitze auf gepackten Koffern und eingetüteten Erinnerungen. Au weia, wie schaffe ich all das Gepretze heim. Vier Umzugskisten eilen mir schon voraus, aber dieses Zeugs hier muss mit mir in den Flieger, komme, was wolle. Dabei konnte ich dank modernster Technik vieles auf Festplatten und Chips verladen, die Fotos zum Beispiel und die Texte, die den Rahmen der Tagebücher sprengten. So wertvoll war der Computer noch nie, und seit seiner kurzen chinesischen Krankheit (er hatte eine nicht auffüllbare Gedächtnislücke) hat er mich nie im Stich gelassen. Auf ihn will ich mich gern weiter verlassen.


Ich werde viele meiner Erinnerungen, meiner Wünsche für dieses Land, meiner Hoffnungen, schriftlich verarbeiten. "Echt, schreibste was drüber?", wurde ich gefragt. Jawohl, ich sitze an etwas, das vielleicht ein Roman werden will. Es hat den Arbeitstitel "Das Wundmal" und ist noch lange nicht fertig. Aber, wie es so schön auf chinesisch heißt, wer auf dem Tiger sitzt, kann nicht einfach absteigen. Ich will ja auch noch gar nicht runter, sondern in vollem Galopp nach vorn. Das erste Kapitel kann schon gelesen werden - und eines Tages vielleicht sogar die ganze Geschichte. Mag sein, dass ich vorher noch einmal zurückgekehrt sein werde nach Kambodscha, weil mir ein klitzekleines Stückchen fehlt zum Fertigschreiben. Dann kann ich einige von euch wiedertreffen. Maybe, maybe not. Wer kann das jetzt schon sagen.


Und so liest sich das vorläufig einzige Kapitel:


Der Traum


Er wartet auf den Schmerz. Er liegt ausgestreckt auf dem Bauch, den Kopf nach links gedreht. Durch die weit geöffnete Tür weht endlich die Brise, auf die er den ganzen Tag gehofft hat. Bald wird es regnen.


Auch wenn er die Augen fest geschlossen hat, kann er doch seinen Freund sehen, der sich über ihn beugt. Er blickt in dieses Gesicht, das er so lange kennt und in dem sich die Anspannung der letzten Tage gesammelt hat. "Halt still", sagt der Freund, "gleich tut es weh." Er hält den Atem an und spürt den Stich auf der linken Schulter.


Die Tätowiernadel dringt kaum einen Millimeter in sein Fleisch, gebremst von einer Schnur, die um Nadel und Tätowierinstrument gewunden ist, vollgesaugt mit schwarzer Tinte. Die Nadel wird sofort ein wenig herausgezogen. Farbe fließt unter seine Haut und breitet sich aus, ein schwarzer Fleck zunächst, dann sinkt sie tiefer und füllt schließlich seinen Körper aus. Er zerfließt in dieser Tinte.


"Sie kommen". Die Stimme seines Freundes ist rauh. Jetzt sieht er sie auch. Obwohl der Raum nur von einer Kerze erleuchtet wird, erkennt er sie in der Tür. Sie tragen schwarze Hosen und Jacken, dunkle Ballonmützen und um den Hals geschlungen rot-weiß karierte Tücher. Sie treten langsam näher. Niemand spricht.


Dann fällt der Schuss. Er kann sich nicht bewegen. Der Körper des Freundes wiegt schwer auf seinen Schultern. Er spürt den Fußtritt in die Seite. Die Kerze erlischt. Die Tinte breitet sich im gesamten Raum bis zur Decke aus.


Auf Wiedersehen, Kambodscha. Ich hatte es nicht immer leicht mit dir, aber ich werde dich nie vergessen. Du bist tief eingraviert in mein Gedächtnis, mit all deinen lustigen und traurigen Geschichten, voller Lachen und voller Tränen. Ich gehe fort von dir. Doch ein kleiner Teil von mir wird immer bei deinen Menschen, deinen Zuckerpalmen und deinen Reisfeldern bleiben.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 2. März 2009.


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