Die Legende von Preah Ko und Preah Keo

Oktober 2008.


Die Legende von Preah Ko und Preah Keo.
Zu lesen bei kambodschanischem Monsunregen nach Sonnenuntergang.





In diesem Oktober erschien mir der Monsunregen besonders heftig. Er trommelte des Nachts unablässig gegen die Fensterscheiben, als wolle er dringendst hereingelassen werden, ein lästiger und unerwünschter Besucher. In meiner kleinen Wohnung fühlte ich mich angenehm geschützt vor der wilden Natur dort draußen, vor den krachenden Blitzen, die in diesem Jahr in Kambodscha schon 77 Leben nahmen (9 wurden von Landminen getötet), und vor dem nicht weniger fürchterlichen Donner. Ich wurde erinnert an die vielen Sonntagnachmittage in den verregneten Sommerferien der Kinderzeit, die ich mit einem Märchenbuch auf der Couch verbracht hatte. Und so las ich im kambodschanischen Oktober-Gewitterregen die Geschichte von Preah Ko und Preah Keo.


Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte in der Nähe der alten Königsstadt Longvaek ein Bauer mit seiner Ehefrau, die schwanger war. Eines Tages träumte der Frau, dass sie drei Ringe mit Diamanten besäße. Aber kaum, dass sie ihrer gewahr wurde, waren die Ringe verschwunden. Die Frau wachte verwundert auf und bat ihren Mann, einen Wahrsager aufzusuchen. Das tat der auch, denn er war ein guter und gehorsamer Ehemann. Der Wahrsager klatschte in die Hände: "Deine Frau wird ein gesegnetes Kind zur Welt bringen. Sie darf aber während der Schwangerschaft auf keinen Fall grüne Mangos essen." Erfreut eilte der Mann zu seiner Frau zurück und überbrachte ihr die Botschaft.


Als sich nun die Schwangerschaft dem Ende zuneigte, überkam die Frau eine unbeherrschbare Gier nach grünen Mangos. Da ihr Mann gerade auf dem Reisfeld arbeitete und sie ihn nicht um Hilfe bitten konnte, kletterte sie allein auf den Mangobaum vor ihrer Hütte. Aber o je - sie kam nicht weit, verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Tod. Ihr Schoss öffnete sich, und heraus kam zunächst ein Kalb, kurz darauf ein Menschenkind. Der Bauer hörte aus der Ferne den dumpfen Aufprall und eilte sofort herbei. Doch fand er seine Frau schon leblos vor, zu ihren Füßen Kind und Kalb, die ihm in die Hütte folgten.


Den Nachbarn blieb das Geschehen nicht verborgen. Sie empfanden es als böses Omen, dass eine Sterbende Mensch und Tier geboren hatte, und jagten den Bauern mit seinen Kindern zum Dorf hinaus. Der Bauer flüchtete sich in den Wald. Er vergoss bittere Tränen, weil er nicht wusste, wie er für sich und die Kleinen sorgen sollte. Schliesslich brach ihm sein Kummer das Herz. Er gab dem Kalb den Namen Preah Ko ("Göttliches Rind") und dem Jungen den Namen Preah Keo ("Göttlicher Keo"), weil ihre Geburt an ein Wunder grenzte. Dann legte er sich nieder zum Sterben.


Nun waren die Kleinen ganz auf sich gestellt. Sie aßen wilde Früchte und Wurzeln und entwickelten sich trotzdem prächtig. Eines Tages sah Preah Keo Bauernkinder am Rande eines Reisfelds, die dort ihre Kühe hüteten. Zur Mittagszeit packten sie ihre in Bananenblätter gewickelte Reismahlzeit aus und fingen schmatzend an zu essen. Preah Keo, der bisher noch nie etwas Gekochtes gegessen hatte, wurde von dem Duft der Speise magisch angezogen und bat einen der Jungen: "Bruder, ich habe Hunger, gib mir doch bitte etwas ab!" Der so Angesprochene guckte nur grimmig und scheuchte Preah Keo davon: "Ich bin nicht dein Bruder! Ich gebe dir nichts ab!"


Weinend kehrte Preah Keo zu Preah Ko zurück und erzählte ihm, was vorgefallen war. "Du musst nicht traurig sein", sagte Preah Ko. Dann begann er zu würgen und spuckte ein Tischtuch auf den Boden, dann eine goldene Schale mit gekochtem Reis und schließlich einen silbernen Teller mit Gemüse und Löffel und Gabel als Essbesteck. Preah Keo staunte nicht schlecht und machte sich sofort über die Speisen her. Da er sich alles sehr geräuschvoll einverleibte, zog er die Neugier der Bauernkinder auf sich, die längst ihre Mahlzeit beendet hatten. Sie lugten durchs Gebüsch und beobachteten das Geschehen erstaunt. Kaum hatte Preah Keo aufgegessen, da verschluckte Preah Ko das Tischtuch wieder, das Geschirr und das Besteck, als hätte es sie nie gegeben. Die Bauernkinder aber rannten sofort nach Hause zu ihren Eltern und erzählten von der Beobachtung.


Nur eine halbe Stunde später stürmten die Bauern mit ihren Majeten zu dem Baum, unter dem Preah Ko und Preah Keo in der Nachmittagssonne friedlich schliefen. Die Bauern hatten nichts Besseres vor, als Preah Ko den Bauch aufzuschlitzen, um an sein Gold und Silber heranzukommen. Als Preah Keo die bewaffnete Menge sah, da fürchtete er sich sehr. "Hab keine Angst, kleiner Bruder", sagte Preah Ko mit sanfter Stimme, "schnell, halt dich an meinem Schwanz fest." Und schon erhob er sich in die Lüfte und flog mit Preah Keo davon. Sie landeten nicht weit entfernt an einem See, an dessen Ufer sie ihr neues Zuhause einrichteten.


Der kambodschanische König hatte währenddessen fünf Töchter groß gezogen. Die Jüngste, Neang Pou, war die schönste unter ihnen. Eines Tages packten die Mädels ihre Badeanzüge ein und machten sich auf zu einem Ausflug in die Umgebung. Sie landeten just an dem See, in dessen Nähe Preah Ko und Preah Keo sich eine Hütte gebaut hatten. Durch die Zweige eines Busches beobachtete Preah Keo das Treiben der fünf Schönheiten und verliebte sich unsterblich in Neang Pou. Dann blickte er an sich herab und stellte fest, dass er offensichtlich für ein Rendez-vous nicht standesgemäß gekleidet war. "Was soll ich bloß machen?" Aber auch hier wusste Preah Ko Rat und spuckte für seinen Bruder ein wunderbares Gewand aus purer Seide aus, das ihm das Aussehen eines Prinzen verlieh. So konnte er sich den jungen Damen zeigen, die sofort Gefallen an ihm fanden. Sie neckten ihn und überredeten ihn zu einem Spiel. Sollte er gewinnen, so könne er sich von ihnen wünschen, was er begehre, so versprachen sie ihm. Und natürlich gewann er, und natürlich suchte er sich Neang Pou als seinen Preis aus. Die anderen Schwestern, die er damit zurückgewiesen hatte, rannten verärgert zu ihrem Vater und erzählten ihm, dass Neang Pou sich ganz unprinzessinnengemäß im Wald mit einem Fremden vergnügen würde. Daraufhin verstieß der König seine jüngste Tochter. Die fand das nicht weiter tragisch, denn inzwischen bereitete Preah Keo ihre Hochzeit vor. Preah Ko tat sein Bestes und würgte einen wunderbaren Palast hervor, in dem die drei einträchtig miteinander lebten.


Inzwischen hatte der kambodschanische König eine schwierige Staatskrise zu bewältigen. Der thailändische König, sein Rivale, hatte ihn zu einem Hahnenkampf herausgefordert: Sein Lieblingshahn sollte gegen einen kambodschanischen Hahn kämpfen. Dem Sieger sollte das Königreich des anderen gehören. Der kambodschanische König bekam Kopfschmerzen, denn er wusste um die Stärke der thailändischen Hähne. Aber da entsann er sich, dass seine jüngste Tochter nicht nur die schönste, sondern auch die klügste seiner Mädchen war. Er ließ sie suchen und bat um ihre Hilfe. Ihr Ehemann wusste Rat: Preah Ko, das Rind, verwandelte sich in einen Hahn und besiegte den thailändischen Gegner. In einem nächsten Kampf verwandelte er sich in einem Elefanten und besiegte den thailändischen Kriegselefanten. Als der thailändische König um einen dritten, letzten Kampf zwischen Stieren bat, erkannte Preah Ko, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte - er musste fliehen.


"Halt dich an meinem Schwanz fest und achte darauf darauf, dass sich deine Frau fest an dich klammert!" rief er Preah Keo zu und schwang sich empor. Während Preah Keo seinen Bruder fest im Griff hatte, konnte sich Neang Pou nicht lange halten. Sie stürzte zu Boden und brach sich das Genick. Die beiden Brüder flohen tief in den Urwald, wo Preah Keo sich seinem Schmerz hingab. Preah Ko versuchte, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Er verwandelte den Urwald in ein Blütenmeer, die Bäume trugen die saftigsten Früchte, das Leben war harmonisch und schön. Dem thailändischen König wurde dies alsbald zugetragen: Im kambodschanischen Wald gebe ein kleines Paradies. Und der wollte das sofort besitzen.


Der thailändische Hofwahrsager konnte nicht nur sehr präzise vorhersagen, wo der schöne Urwald zu finden sein würde - er erkannte auch Preah Ko darin mit seinen Zauberkräften. Um so mehr wollte der thailändische König Urwald und Wunderrind besitzen. Da der Urwald aber sehr dicht gewachsen war, wandte der König eine List an: Er ließ seine Soldaten mit ihren Gewehren Silbermünzen in das Dickicht schießen. Die Bauern der Umgebung sahen die Münzen schimmern und holzten in kürzester Zeit alles ab, so dass sich Preah Ko und Preah Keo nicht mehr verstecken konnten. Es war ein Leichtes für die Soldaten, Preah Ko mit einem magischen Strick einzufangen. Der thailändische König baute für Preah Ko und Preah Keo einen wunderbaren Palast in Thailand, in dem er sie einsperrte und mit sieben dicken Mauern umgab. Es war unmöglich für die beiden Brüder, aus diesem goldenen Gefängnis zu entfliehen. Sie kehrten nie wieder nach Kambodscha zurück.


Und in der nächstes Deutschstunde identifizieren wir die in dieser Legende dargestellten nationalen Traumata und interpretieren sie vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation in Preah Vihear.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 30. Oktober 2008.


© Mimi Productions