Die Ratte kömmet

Februar 2008.


Die Ratte kömmet.
Ganz Phnom Penh im Chinatown-Kostüm.





Inzwischen habe ich einen Mehrzweck-Kalender in Mehrfach-Sprachen. Die Neujahrserfahrungen des vergangenen Jahres, über die ich in meinem April-Bericht nachdachte, waren der Anlass für diese überaus nützliche Anschaffung: Ein nur auf den ersten Blick simpler Abreisskalender informiert mich täglich über das Datum (laut gregorianischem Jahr, Khmer- Buddha-Zeitrechnung und chinesischem Mondkalender) und gibt mir wesentliche Lebenshilfen ("Drachen-Geborene müssen heute besonders vorsichtig sein - der Tag ist als Hunde-Tag für Drachen inkompatibel", "Heute nicht zum Friseur gehen – der Mond verbietet Haarschnitt und Hochzeit" – wir kennen das aus dem Bäckerblumen-Horoskop und wissen damit hinreichend Sinnvolles anzufangen). Leider sind die täglichen Überlebenstipps nicht ins Englische hinübergerettet – aber inzwischen besitze ich ausreichend Lehrpersonal, das mich bei der praktischen Umsetzung aus Khmer-Nudelschrift und China-Langzeichenpinselei berät. Ich fühle mich in geradezu leichtsinniger Weise polyglott.


Der 7. Februar 2008 leuchtet mich aus meinem Kalender in ekstatischen roten Zeichen an: CHINESISCH!!! NEUJAHR!!! Das 2007er Schwein darf zurück ins Schlammbad; der neue Zwölf-Jahreszyklus beginnt 2008 mit einem Nager, der in der deutschen Übersetzung sowohl "Maus" als auch "Ratte" heiβt. Den Chinesen ist das eine wie das andere "lăo shŭ" 老鼠. Und siehe da – kurz vor dem Festtag hängen Micky- und Minimaus-Papierbildchen an Heim und Hof und bebrillte Leseratten-Konterfeis bei den Nachbarn, anything goes.


Plötzlich entdeckt Phnom Penh seine chinesischen Familienbande. Wie flächendeckend hier das chinesische Neujahrsfest gefeiert wird, war mir im letzten Jahr so gar nicht aufgefallen. Auf einmal ist jeder Phnom Penhese irgendwie mit chinesischen Vorfahren oder engsten Verwandten gesegnet, was sich (und/oder/auch) mit den drei Feiertagen (mehr oder weniger offiziell, aber rot in meinem Kalender vermerkt) erklärt. Rote Papierlampions schmücken sogar die kleinste Hütte, Spruchbänder mit Wünschen für ein langes Leben und viel Gesundheit (in goldenen chinesischen Schriftzeichen) kleben rechts, links und über den Eingängen von Geschäftsräumen und Wohnungen.


Man muss sich auf die Festlichkeiten gut vorbereitet haben, sonst wird man böse überrascht: Die Feiertage werden auch von den Straßenhändlern und Restaurants wahrgenommen, und das heisst: (Fast) alles wird dicht gemacht für eine gute Woche. Wer sich nicht auf Vorrat versorgt hat, mag vor der verschlossenen Tür des Lieblingsrestaurants mit leerem Magen (ver)enden. Auf dem O'Russei-Markt sind die Händler zu 95 % Sino-Khmer und beim Olympischen Markt zu 80 %. Von den 2.800 Händlern des bekanntesten Marktes in Phnom Penh, dem Psah Thmei (Touristen ist er unter dem Namen "Central Market" bekannt), wollen die meisten über die Feiertage nicht arbeiten, egal, ob chinesisch verbandelt oder nicht – so die englischsprachige Tageszeitung "The Chambodia Daily" vom 7. Februar 2008. Dafür machen die, die ihre Stände geöffnet halten, gute Geschäfte: Ich staune nicht schlecht, als meine Drachenfrüchte plötzlich doppelt soviel kosten sollen wie sonst. "Chinese New Year!", grinst die Verkäuferin, sie hat das Monopol und ich das Nachsehen.


Meine Khmer-Lehrerin Kamrang hat natürlich auch ganz viel chinesisches Blut, die Großmutter kam aus China, und so weiss Kamrang auch, wie "die" Chinesen in Kambodscha ihr Neujahrsfest begehen. Sie hat Glück: Sie wohnt in Takmao, vor den Toren von Phnom Penh, wo einer der grössten chinesischen Tempel der Region seine Dienste anbietet. Bevor ich mich dorthin begebe, betreibe ich ein wenig chinesische Ahnenforschung.


Kambodscha beherbergt chinesische Gäste und Einwanderer seit ungefähr 2.000 Jahren, so dass Chinesisches in diesem südostasiatischen Land mehr oder weniger versteckt überall anzutreffen ist: im Aussehen seiner Menschen, in der Kleidung, auf dem Speiseplan, in der Sprache und auf den Blechschildern der Läden. Es gibt berühmte Reiseberichte wie die von Zhōu Dá Guān周达观, der das Land im Auftrag seines Kaisers um 1296 n.Chr. bereiste. Angehörige von fünf Dialektgruppen aus Südchina nennen Kambodscha seit langem ihre Heimat: Teochiu, 潮洲(cháozhōu); Kantonesen, 广东 (guăngdōng); Hainanesen, 海南 (hăinán); Hokkien, 福建 (fújiàn); und Hakka, 客家(kèjiā). Alle brachten ihre unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten mit und versuchten, sie zu erhalten. Nach Unterdrückung und Verfolgung unter dem Lon Nol-Regime und Pol Pots Khmer Rouge gründeten sie inzwischen neue Schulen und landsmannschaftliche Vereine und eröffneten ihre Tempel wieder. Doch sprechen nicht mehr alle chinesisch, und das Beherrschen der Schrift ist auch nicht mehr selbstverständlich. Wenn die Kleinen auf eine der vielen chinesischen Privatschulen geschickt werden, erlernen sie dort eher das Beijinger Hochchinesisch anstatt eines südchinesischen Dialektes.


Die Volksrepublik China gehört zu den gröβten Geberländern in der hiesigen Entwicklungszusammenarbeit, macht dies aber weniger publik als die anderen. Der kambodschanische Ministerpräsident muss sich ihr gegenüber zu Menschenrechtsverstöβen und dem Fehlen eines Anti-Kooruptionsgesetzes nicht erklären, nur auf die Einhaltung der Ein-China-Politik im Hinblick auf Taiwan legt der groβe Nachbar Wert. Zum Monatsbeginn stattete der chinesische Auβenminister Yang Jiechi dem Land einen Besuch ab, und es wird gemunkelt, dass der kambodschanische Informationsminister sich täglich in die chinesische Botschaft zum Lunch einladen lässt.


Ich nehme ein Tuk-Tuk nach Takmao, eines dieser ganz wunderlich-praktischen Beförderungsmittel aus Motorrad-cum-Anhänger, mit denen man überall in Südostasien innerhalb eines 50 km-Perimeters wunderbar verkehren kann. Mein Tuk-Tuk-Fahrer, Herr Thi, mit niemand aus China verbandelt und insofern für diese Fahrt kulturell neutral, hat natürlich keine Ahnung, was es in Takmao alles an wunderbaren Orten gibt. Von einem großen chinesischen Tempel dort hat er noch nie etwas gehört. Das ist absolut normal. Solche Unwissenheit stört weder Fahrer noch Fahrgast. Doch damit aus den geplanten 20 motorisierten Minuten keine langen Stunden werden, muss ich darauf beharren, dass mein Tuk-Tuk-Fahrer nach dem Weg fragt. Das macht er nicht so gern, ich weiss. Dabei ist es – wie sich bald herausstellt - gar nicht schwer: geradeaus nach Süden und am Fluss Tonlé Bassac entlang, bis es am rechten Straßenrand so richtig lebendig wird. Dort ist DER chinesische Tempel.


In China wird das Neujahrsfest leichtsinnigerweise "Frühlingsfest" genannt, obwohl es dann im Norden wie zum Beispiel Beijing noch empfindlich kalt und winterlich sein kann. Hier heisst es einfach nur "Chinesisches Neujahr" und findet bei hochsommerlichen Temperaturen statt. Die Tempelgötter in Takmao sind keine Buddhas, sondern südchinesische Lokal-Heiligkeiten und werden von ganzen Familien umlagert, die ich bei näherer neugieriger Betrachtung als nicht so besonders chinesisch empfinde. Es sind einfach auch sehr viele. Gern trampeln mir die lieben Kleinen auf den großen Zeh, sie haben ja sonst nichts zu tun – stille Andacht und inniges Gebet sind jetzt nicht auf der Agenda.


Es ist eh schon so heiss, und dann werden auch noch überall rote Kerzen angesteckt. In kleinen Öfen brennt goldbedrucktes Totengeld (damit sich die Verwandten im Jenseits mal wieder etwas leisten können) und hebt die Temperatur zusätzlich an. Die Weihrauchspiralen, die von der Decke hängen, verbreiten einen blindmachenden Rauch. Und so gerate ich im Gedränge in akute Atemnot. Ein junger Tempelangestellter, der ein wenig für Ordnung sorgt (er achtet darauf, dass umfallende Kerzen den bunten Gewändern der Tempelgötter fern bleiben), hat's richtig gemacht: Er trägt eine Sonnenbrille, an deren Bügeln er elegant einen nassen Waschlappen als perfekten Mundschutz befestigt hat.


Wieder zurück in Phnom Penh, geht das bunte Treiben weiter, aber punktuell, und ich muss gut aufpassen, will ich einen Löwentanz erwischen. Nur die sehr reichen Geschäftsleute engagieren zur Belustigung ihrer Kundschaft solche Löwentanzgruppen mit ganzen Spielmannszügen und lassen sie vor und in den Geschäften herumspringen. Das dauert dann ungefähr eine lustige Viertelstunde: Der Vorderteil-Löwentänzer schwingt den Pappmaché-Kopf wie ein sehr wilder Löwe sehr wild hin und her, während der Hinterteil-Löwentänzer versucht, den taktvollen Anschluss und seine andere Hälfte nicht zu verlieren. Wenn beide Tänzer (also der gesamte Löwe) ermattet sind, stellen die Musikanten ihre Paukerei und Gongerei ein, und alle ziehen zufrieden ab. Ich empfinde viel Bewunderung für solche Khmer-Löwen chinesischer Prägung: Bei Minustemperaturen ist dieses schweißtreibende Geschäft nicht halb so anstrengend wie in der Tropenhitze, bei einem Volk, das nicht einmal gern zu Fuß geht. Ich latsche glücklich heim und werfe einen abschlieβenden Blick in mein Jahreshoroskop. Dort steht: Die Erd-Ratte ist gut zum Wasser-Drachen, also mir. Mein Vermieter jedenfalls war schon gut zu mir. Auf dem Esstisch finde ich seinen Neujahrsglückwunsch und einen Teller mit Mandarinen. Die orangefarbene Schale der Früchte wird am Neujahrstag mit Gold und Reichtum assoziiert – so will mir mein chinesischstämmiger Vermieter fürs neue Jahr wünschen: gōng xĭ fā cái! 恭喜发财!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 3. März 2008.


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