Von der Schlange, die ein Wasserdrachen ist

November 2007.


Von der Schlange, die ein Wasserdrachen ist.
Und von dem Land, das ein Meer war.





Wer schon einmal beim Anflug auf Phnom Penh ohne eine Sichtblende aus Flugzeugflügel oder Regenwolkenballung nach unten gucken konnte, dem wird Kambodscha in Erinnerung bleiben als hellbraune Plane mit vereinzelten grünen Tupfen (sechs Monate im Jahr) oder als riesige schwarze Wasserfläche, hie und da unterbrochen durch hell- und dunkelgrüne Quadrate (die restlichen sechs Monate des Jahres). Phnom Penh liegt immer mehr oder weniger im Wasser. Vier Flüsse kommen hier zusammen, von den zwei großen Seen ist zwar einer – aus Spekulationsgründen – zur Hälfte versandet, aber nasse Füße kann man sich das ganze Jahr über holen, wenn’s denn sein muss. Das Wasser gluckert sich eins und weiβ schon längst, wie es seinen Platz an der Oberfläche wieder einnehmen kann.


Die Verbundenheit mit dem Wasser teilt Kambodscha mit seinen südostasiatischen Nachbarn. Sogar die Symbole gleichen sich, was mit einem intensiven Kulturaustausch und einer langen gemeinsamen Geschichte zusammenhängt, denn einst gehörten Teile vom heutigen Thailand, von Laos und von Vietnam zum Königreich der Khmer, die von ihrer Tempelstadt Angkor über ein riesiges Reich herrschten. Überall in Angkor, das jetzt in seiner morbiden Ruinenschönheit Millionen von Touristen anzieht, begegnet man den steinernen Schlangen, die als „Nagas“ bekannt sind. Für die Kambodschaner sind das keine Schlangen, sondern Wasserdrachen. Es gibt sie in Ausführungen mit einem Kopf, dreien, fünf, sieben – eine Naga ist ausschließlich in ungerader Anzahl bekopft und wechselt den Namen, je nach Anzahl ihrer Häupter. Mit einem heisst sie „niëk“ und mit sieben „bos niëk riedsch“, „sehr mächtige Naga“, was ja naheliegend ist.


Die Naga gehörte immer schon in Kambodscha dazu und ist folglich auch Teil des Gründungsmythos dieses Landes. Eine Geschichte geht so: In grauer Vorzeit kam ein Mann über das Meer, der hieβ Prean Thong und heiratete Somaq, die Tochter des Naga-Königs. Das Paar wohnte zunächst im Schlangenpalast in einem Baum. Der Papa wollte nun seiner Tochter eine anständige Mitgift und ein eigenes Heim verschaffen und trank deshalb das Meer aus, das den Boden des heutigen Kambodscha bedeckte. Das Land, das so entstand, wurde Nokor Nok Thlok genannt, das Land des Thlok-Baumes. Denn es war ein Thlok-Baum, in den der Naga-König seinen Palast gebaut hatte.


Andere Mythen, die im Khmer-Land bekannt sind, aber ihren Ursprung in Indien haben, kamen mit dem Hinduismus und dem Buddhismus hierher. So kann man in Angkor den in Stein gehauenen Gott Indra betrachten, während er mit seinem Donnerkeil auf eine Wolke zielt: Die Wolke ist eine riesige Naga, die in ihrer Gier sämtliches Wasser geschluckt hat, das ihren Bauch sich riesig blähen ließ. Alle Götter und alle Menschen darben. Umsonst hatten sie die Naga gebeten, vom Wasser abzugeben. Die Naga verschlieβt sich dem Leiden, und die Not ist groβ. Erst wenn Indras Donnerkeil den Naga-Leib zerschmettert hat, wird das Wasser frei gesetzt, wird es regnen – denn vom Wasser, vom Regen hängt ja nicht nur hier alles Leben ab.


Der berühmte Königsweg vor den Mauern von Angkor Thom, nach dem André Malraux (ein früherer französischer Kulturminister, Romancier und verurteilter Angkor-Antiquitätendieb) eine Novelle benannt hat, wird gesäumt von Göttern und Dämonen, die um die Wette an einem schuppigen Schlangenleib ziehen, dass ihnen vor Anstrengung die Augen aus dem Kopf quellen: Sie quirlen den Milchsee, aus dem sie das Elexier des ewigen Lebens gewinnen wollen. Die Szene ist vielfach auch in Phnom Penh kopiert, als Deko an den Villen der Reichen und als Promenadengeländer am Tonlé Sap-Fluss. Und in jedem Wat finden sich die Buddhas, die vor Sonne und Regen geschützt unter den sieben Häuptern der sehr mächtigen Naga Vasuki meditieren.


Ich habe noch keine einzige Schlange und naturgemäß auch keinen Wasserdrachen gesehen, aber die Ebenbilder sind in mehr oder weniger abstrakter Form im heutigen Kambodscha einfach nicht zu übersehen: als geschwungene Ausläufer der Palast- und Pagodendächer, auf dem Logo der Wochenzeitung „Phnom Penh Post“, aus Beton, Holz und Gips, als Schlüsselanhänger und Schulheftcover. Unser Spielcasino, das nur Ausländer besuchen dürfen, weil Glücksspiel für Kambodschaner gesetzlich verboten ist, wurde auch nach der Naga benannt. Und natürlich schmücken die mythischen Tiere den Bug der bunten Ruderboote, die sich hier einmal im Jahr zu einem groβen Wettstreit versammeln.


Phnom Penh feiert an und auf seinen Wassern, wenn sich zu Beginn der trockenen Jahreszeit der Novembervollmond im Mekong badet. Heuer erwartet die Stadtverwaltung am 23. November drei Millionen Besucher zum Wasserfest, von denen angeblich vier Millionen auch kommen. Viele Phnom Penhesen flüchten vor dem Ansturm dieser Invasion, die schlieβlich drei Tage währt, reichlich Müll hinterlässt und ungute Erinnerungen bei denen, die ihre Wertsachen nicht in die Unterwäsche eingenäht haben, und gewisse körperliche Befindlichkeiten bei anderen, die sich an geistigen Getränken und Garküchenköstlichkeiten übermäβig erfreuten. Wie es sich gehört, brutzelt die Sonne auf alles und jedes, so dass sich die vielen Strohhutverkäufer über gute Geschäfte freuen können und die Festbesucher in Windeseile einheitlich behütet sind.


Angemeldet zum Wettbewerb haben sich 432 Ruderboote mit mehr als 26.100 Ruderern. In Besetzungen zwischen 22 und 70 wird im Sitzen, wird im Stehen den Tonlé Sap-Fluss cirka einen Kilometer hinunter gerudert. Jeweils zwei Boote treten gegeneinander an, auf den schlammigen Wassern spiegeln sich ihre T-Shirts als rosa, rote, blaue, gelbe, grüne Tupfen. Am Ufer stehen und hocken die restlichen 3 ¾ Millionen, laufen auf und ab, knabbern an frisch gekochten Maiskolben und Bratfischen am Stil, an grünen Mangos mit Chilipulver und groβen Fladenbroten, schlürfen zuckersüβe Limonaden in ungesunden Farben und schwatzen sich eins mit Nachbarn und Unbekannten. Das Wasserfest ist ein Volksfest für ganz Kambodscha.


Über die festbegleitende Infrastruktur gibt es sogar offizielle Verlautbarungen. Die Stadtverwaltung stellt 200 Dixi-Toiletten zur Verfügung und schickt 3.400 Extra-Polizisten auf die Straβen. Die private Stadtreinigungsfirma Cintri beschäftigt zusätzlich Personal neben ihren regulären 420 MitarbeiterInnen – gemunkelt wird von 600! Cintri ist Phnom Penhs Müllbeseitigungsmonopolist mit der Lieblingsfarbe GRÜN. Alles ist GRÜN bei diesem Unternehmen, die Müllautos, die Mülltonnen, die Kleidung der Müllmänner und –frauen. Bei meinem Rundgang an der Uferpromenade begegnet mir ganz viel Cintri-Zusatz-Personal in noch völlig neuem und allzu steifem GRÜN, und es weiß nicht, was es tun soll. Also steht es noch eine Weile herum und lächelt schüchtern über seinen GRÜNEN Kittelkragen hinweg.


Am Sonntagabend vergibt der König die Preise an die Sieger der verschiedenen Kategorien. Das Ergebnis würde jedes Kinderherz erfreuen: 142 Boote kamen auf den ersten Platz, 133 auf den zweiten, 114 auf den dritten und 42 auf den vierten (das heisst, sie haben alle ihre Wettkämpfe verloren). Den König kann ich leider mal wieder nicht sehen, denn er und die vielen Exzellenzen und Ehrengäste werden von vielen übergewichtigen Herren in Uniform vor mir und allen anderen neugierigen Blicken flächendeckend geschützt. Aber ich kann das Feuerwerk genieβen und den Vollmond. Bei all der Festtagsfreude ist mir entgangen, dass fünf Ruderer aus Singapur und ein Kambodschaner ertranken, als ihre Boote kippten. In einer Zeitung wird das Komitee für Desaster-Management verantwortlich gemacht, weil keine Rettungsboote und keine Rettungsringe zur Hand waren. Der erste Vizepräsident des Komitees, der privat mit der Abfüllung von Mineralwasser ein Extra-Taschengeld verdienen will, streitet das selbstverständlich ab. Und man hätte es wissen müssen: Viele Wasserfest-Aktive können nicht schwimmen.


Wenn der Trubel mit den Ruderbooten vorbei ist und die Wellen des Tonlé Sap sich wieder geglättet haben, wenn man scharfe Augen und ein wenig Glück hat, dann kann man sie in den kambodschanischen Wassern spielen sehen: die ein-, drei-, fünf- oder siebenköpfigen Drachen, die Nagas genannt werden.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 23. Dezember 2007.


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