Reisklöβchen für dünnhalsige Geister

Oktober 2007.


Reisklöβchen für dünnhalsige Geister.
Fünfzehn Tage Ahnengedenken.





Im Oktober hört es langsam auf mit den heftigen Regengüssen. Für die Klöster im buddhistischen Kambodscha bedeutet das: Die Mönche dürfen wieder nach drauβen, denn (theoretisch) müssen sie die Regenmonate in ihren Pagoden, die hier "Wat" heißen, verbringen und sich dem Studium der heiligen Schriften widmen, damit sie nicht versehentlich auf eines der vielen Tierlein treten, die sich an der Regenzeit ergötzen und vermehrt überall herumwandern. Mir sind allerdings regenschirmbewaffnete Mönche in den letzten Wochen zuhauf begegnet, die ihren Stubenarrest wohl nicht sehr ernst nahmen. Dafür ist den Gläubigen das Ende dieser Periode um so wichtiger: Es ist die Zeit von Pchum Ben, dem fünfzehntägigen Ahnengedenkfest, dem wichtigsten buddhistischen Fest in Kambodscha, das in diesem Jahr am 27. September begann und am 11. Oktober seinen feierlichen Höhepunkt fand. Dann füllen sich die Wats wie bei uns die Kirchen zur Christmette, doch haben die Kambodschaner für ihre Festlichkeit mehr Ausdauer. Das müssen sie auch, im eigenen Interesse: Wer sich nicht kümmert, dem droht Ungutes.


Meine Oma hatte auf ihrer Kommode vergilbte Fotos der Verwandtschaft zu stehen, und am Totensonntag stellte sie eine Kerze ins Fenster zum Andenken an ihren in Russland vermissten Sohn. Eine Zeit zum Gedenken der Verstorbenen ist urmenschlich und in allen Kulturen bekannt. Von der jeweiligen Mentalität hängt es ab, ob mehr geweint, mehr gelacht oder mehr gefeiert wird. In Mexiko zieht die Familie zu Todos Santos mit dem Picknick-Korb und dem Transistorradio auf den Friedhof, um rund um die Grabsteine eine lebendige Fiesta mit den Toten zu feiern; und das Qing Ming-Fest der Chinesen ist von Böllern und Schnaps begleitet wie jede ordentliche Hochzeit auch.


In Kambodscha ist es nicht so lustig, aber bunt, lebendig und unüberhörbar. Schon um 4 Uhr in der Früh, wenn es hier in Phnom Penh noch stockdunkel ist dank sparsamster Straßenbeleuchtung, ziehen die ersten Familien mit ihren Speisegaben und Räucherstäbchen in die Pagoden. Die Segnungen der Mönche werden über Lautsprecher übertragen und erreichen akustisch auch die, die den Weg in den Wat noch nicht gefunden haben. Ich gestehe gern, dass ich mich da noch einmal aufs andere Ohr gedreht habe und alles, was ich über die Morgenaktivitäten aufschreibe, nur aus zweiter Hand weiß. Aber meine Khmer-Lehrerin ist eine bewährt verlässliche Quelle, sie nimmt ihren Buddhismus ernst und praktiziert ihn mit Hingabe. Von ihr weiß ich also:


In die Pagode werden vormittags gekochter Reis und andere Speisen gebracht, gedacht für die Toten und geschenkt den Mönchen, die für die Verstorbenen heilige Sprüche in Pali, der für religiöse Zeremonien verwendeten Sprache indischen Ursprungs, rezitieren. Die Ahnen dürfen in den fünfzehn Tagen aus der Unterwelt zu Besuch in die Oberwelt zurückkehren, also einmal im Jahr, um sich von ihren Verwandten mit Essen versorgen zu lassen. Das Jemseits ist weit weg, die Versorgungslage dort offenbar nicht gut. Wenn die Vorfahren "schlechte Menschen" waren, müssen sie ihr Dasein als Geister in der Hölle ("Breat") fristen, mit dünnen Hälsen und aufgedunsenen Hungerbäuchen. Solche Breat brauchen spezielle Speisen: Klebereisbällchen mit schwarzem Sesam, und die müssen ihnen vor Sonnenaufgang dargeboten werden, weil Breat das Sonnenlicht nicht gut vertragen. Da die Lebenden nun nicht wissen, ob Oma, Opa, Onkel, Tante zu Breat geworden sind, packen vorsichtshalber alle in ihre Essenpakete fürs Jenseits Reisbällchen mit schwarzem Sesam. Denn nur die nicht zu Breat gewordenen Ahnen mögen auch Obst und die speziell für Pchum Ben hergestellten Kekse. Die Bezeichnung des Festes heißt übersetzt: "versammeln (pchum) mit in Portionen aufgeteiltem Reis (ben)".


Wenn die Ahnen nun in die Oberwelt gestiegen sind und ihre lebenden Verwandten ihnen nichts Leckeres gebracht haben, ist das für die Lebenden fatal: Sie werden von den hungrigen Geistern verflucht, mit jeglicher nur denkbaren Konsequenz. Das geht von vermasselten Geschäftsabschlüssen über schlechte Schulzeugnisse und hässliche Bräute bis hin zu plötzlichen Todesfällen; man mag sich das in den Einzelheiten lieber nicht genau ausmalen. Da die Vorfahren aber mit ihrer Flucherei vorsichtig sein müssen (schließlich bleibt alles in der Familie) und nicht so genau wissen, in welchem Wat sie gespeist werden sollen, steuern sie in den fünfzehn Tagen des Pchum Ben-Festes sieben verschiedene an (von den ca. 3.000, die es derzeit in Kambodscha gibt) – und das machen die Lebenden auch. Mindestens sieben Pagoden besucht meine Khmer-Lehrerin jedes Jahr. Die Chancen, dass sie auf ihre Ahnen trifft, sind gut: Denn es sind Pagoden in der Gegend, aus der ihre Familie stammt. Ganz nebenbei verschafft sich jede/r Pchum Ben-Teilnehmer/in auch Verdienste fürs Nachleben und bessere Wiedergeburtschancen. Wer den Rundgang nicht gleich schafft, bekommt an diesem 11. Oktober dafür einen Tag frei: Der letzte Tag des religiösen Festes ist offizieller Feiertag im Land.


In den mit bunten Fahnen geschmückten Wats segnen die Mönche nicht nur die Verstorbenen, sie erinnern auch die Lebenden an die Endlichkeit der menschlichen Existenz: "Alle Dinge sind flüchtig, sie entstehen und sie vergehen. Während sie sich entwickeln, befinden sie sich schon in der Auflösung. Es ist eine Segnung, wenn dieser ständige Prozess des Werdens und Vergehens endet. Man kommt ohne Einladung in diese Welt der Illusionen, man geht ohne Abschied. Warum soll man darüber trauern?" Die wenigstens Gläubigen verstehen Pali, so empfinden sie den eintönigen Singsang der Mönche als beruhigend und fühlen sich nicht bemüßigt, über dieses Religionskonzept nachzudenken, das mir wenig Hoffnung und Trost zu spenden scheint und das ich ähnlich schwer zugänglich finde wie Gedichte von Stefan George: "komm in den totgesagten park und schau – der schimmer ferner lächelnder gestade – der reinen wolken unverhofftes blau – erhellt die weiher und die bunten pfade".


Wenn ich schon dem morgendlichen Trommelruf der Pagode nicht gefolgt bin, so habe ich für einen Besuch zumindest in der Mittagspause Zeit gefunden, als das bunte Treiben auf dem Höhepunkt war. Denn die Mönche dürfen mit den Gläubigen – und den Ahnen, die man aber nicht so deutlich sehen kann – gemeinsam bis 12 Uhr essen. Danach fasten sie bis zum frühen Frühstück am nächsten Morgen, was nichts mit Pchum Ben zu tun hat, sondern eine der strengen Klosterregeln ist. In der Speisehalle der Mönche sieht es jetzt aus wie bei einem Festgelage. Auf farbenfrohen Strohmatten stehen Schälchen mit Reis, Teller mit Gemüseresten, Teetassen und Thermoskannen. Alt und Jung lagert dicht beieinander, isst mit den Fingern; Kinder spielen mit leeren Plastikflaschen und inspizieren, was von der Menüfolge übrig ist. Eine alte Frau lädt mich ein, Platz zu nehmen und mich an der Mahlzeit zu beteiligen. Es ist nett gemeint. Ich wandere vorbei an den bunt bemalten Betonwänden der Halle, auf denen ein sehr rosa Buddha an einem sehr grünen Bodhi-Baum sitzt, unter einem sehr blauen Himmel, umgeben von sehr steifen Jüngern, die sich alle zum Verwechseln ähnlich sehen. Gemeinsames Essen verbindet, und hier kommt nichts, na ja, fast nichts um. Ich beobachte zwei alte Frauen und einen Veteranen mit Holzbein, die hoch zufrieden mit ihren prall gefüllten Plastiktüten von dannen ziehen. So haben auch die lebenden Armen etwas von den Gaben, und für die Ahnen bleibt genug.


Die Klebereisbällchen werden den Breat gemeinsam mit Räucherstäbchen in adretten Häufchen dargeboten, auf den Stupas, die die Urnen mit der Asche der Verstorbenen bergen. Sie ziehen in der Mittagssonne bereits Fäden und locken hungrige Insekten an. Egal, wie man zu derartigen Ritualen stehen: Sicher ist, dass die Post-Konflikt-Gesellschaft Kambodschas durch solche gemeinsamen Festivitäten zusammenwachsen kann. Der Oberpatriarch des buddhistischen Ordens der Thommayut, der Ehrenwerte Tep Vong, sagte in einem Interview mit der Phnom Penh Post vom 15. Dezember 2006: "In dem Regime der 3 Jahre, 8 Monate und 20 Tage (eine hier allgemein verstandene Umschreibung für die Herrschaft der Roten Khmer) wurden 21.568 Mönche getötet, ein großer Verlust für den Geist und die Identität des kambodschanischen Volkes." Die geltende Landesverfassung erhebt den Buddhismus zur Staatsreligion. Fast alle Kambodschaner, die ich nach ihrem Glauben befragte, bezeichneten sich als Buddhisten. Die Vielfältigkeit und die Details ihrer Religion sind ihnen nicht so wichtig, sie gehen mit ihren Familien in die Pagode, wo auch die Nachbarn hingehen, sie geben den Mönchen und den Ahnen, und das allein zählt. Ob in diesem Zusammenarbeit eine Aktivität des Ministerpräsidenten sinnvoll und erfolgversprechend ist, wage ich zu beweifeln.


Die Tageszeitung Cambodia Daily berichtete darüber am 1. November 2007. "Ministerpräsident Hun Sen ernannte den Chef seiner Bodyguards zum Assistenten des Oberpatriarchen der buddhistischen Sekte der Mohanikay, des Ehrenwerten Bou Kry. Hing Bunheang, der bereits Assistent von Tep Vong ist, dem Oberpatriarchen der Thommayut, sagte, dass seine Ernennung helfen werde, beide buddhistischen Sekten zu vereinen. 'Das hilft der Religion.'" Nach allem, was bekannt ist, war Bodyguard Hing Bunheang vor seiner Assistentenzeit beruflich noch nie mit religiösen Angelegenheiten befasst. Die buddhistische Sekte der Mohanikay entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus Anlass einer Reform des Buddhismus, die von Thailand ausging. Bis heute disputieren Mönche des Thommayut- und des Mohanikay-Ordens über Auslegungen der Texte und Anwendung der Prinzipien und halten ihre Klöster getrennt. In Deutschland findet man sich nach fast 500 Jahren mit der Existenz eines in zwei Sekten gespaltenen Christentums ab, und die Kanzlerin entsendet zur Glaubensrettung keine Berater.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. November 2007.


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