Die Zukunft aus grünen Blättern

Juni 2008.


Die Zukunft aus grünen Blättern.
Bei der Wahrsagerin.





Ich will es endlich wissen. Meine Khmerlehrerin guckt mich fragend an: Ob das mein Ernst sei, ob ich daran wirklich glauben würde ... Sie habe mich doch auch von der Existenz der verschiedenen Wald-Geister und Wasser-Ungeheuer nicht überzeugen können, obwohl ihre Großmutter (chinesischen Ursprungs!) sich doch für die Richtigkeit der Aussagen verbürgt habe ... (Oma hatte nämlich das Übernatürliche mit eigenen Augen gesehen, was für ihre Enkelin so wirklich ist, als wäre auch sie dabei gewesen.) Ich gebe zu: Es erscheint widersprüchlich, ein schwebendes Etwas mit Eberzähnen in den Bereich der Legenden zu verweisen, aber an die zukunftsgestaltende Kraft einer Pique-Sieben zu glauben. Doch bin ich wild entschlossen, mir Rat bei einer kambodschanischen Wahrsagerin zu holen.


Bis vor kurzem konnte man sie und ihre Kollegen noch am Wat Phnom aufsuchen. Da saßen sie dicht gedrängt in unterschiedlicher Kostümierung in ihren Buden, meist neben einem kleinen Hausaltar (der Segen der Unsterblichen ist immer gut fürs Geschäft), ausgestattet mit Spielkartendeck und Wahrsagestäbchen, und verhalfen den Uneingeweihten zu mehr oder weniger gesicherten Aus- und Einsichten. Bedauerlicherweise führte die Stadtverwaltung gerade hier ihr Programm "Unser Dorf soll schöner werden" durch. Mir hätte es ja gereicht, wenn einfach nur der Stinkemüll weggezaubert wäre. Aber nein, alle Buden mussten verschwinden, die Fläche wurde gepflastert (nur zum Teil natürlich - denn wir sind ja in Kambodscha, und da hat man ewig lange Zeit zur Umsetzung von Arbeitsanweisungen, besonders wenn sie von der Stadtverwaltung kommen), und jetzt sieht das alles viel unordentlicher aus als früher und keineswegs interessanter für die Touristen - letzteres war nämlich die offizielle Begründung der Umgestaltung. Zum Glück weiß meine Lehrerin, wo wir hinfahren müssen. Immerhin ist sie verheiratet: Natürlich geht man in Kambodscha zum Wahrsager, um sich den für die Eheschließung glückbringenden Tag nennen zu lassen. Und dann weiß man halt auch für andere Fälle, wo man sich Rat holen kann.


In die Zukunft blicken zu können und Antworten auf schwierige Fragen ohne große Anstrengungen zu finden, ist ein alter Menschheitswunsch, den wir Normalsterblichen uns auf verschiedenste Art mit graduell unterschiedlicher Präzision erfüllen. Das geht von der Gänseblümchen-Methode ("er liebt mich, liebt mich nicht, von Herzen, mit Schmerzen ...") über das Tageszeitungshoroskop bis zu Tarotkarten und Kristallkugeln. Und wenn wir diese Kunst selbst nicht so gut beherrschen, gucken wir uns dazu besonders Befähigte aus. Das machen die Kambodschaner ganz genauso. Von den Vorhersagen der königlichen Ochsen während der jährlichen Pflügezeremonie zu Beginn der Reispflanzzeit hatte ich schon berichtet: Die Deutung der Ochsen-Omen obliegt den Wahrsagern vom Königshof. Die sind Brahmanen-Priester, eine Einrichtung aus der vorbuddhistischen Zeit und heutzutage besonders zum Neujahrsfest der Khmer im April gefragt. So sagte Im Borin, Chef-Hofastrologe des amtierenden Königs Sihamoni, in diesem Jahr die Lage der Nation wie folgt voraus: Das Jahr der Ratte, von der Göttin Thungsakdevi beherrscht, wird nichts Gutes bringen – es wird zuviel Regen geben, der Salzpreis steigt, und die Ehefrauen "höherrangiger" Regierungsangestellten werden von Eifersuchtsanfällen geplagt. Zu ersterem lässt sich zu Beginn der Regenzeit noch keine Aussage machen, letzteres entzieht sich auch meiner Kenntnis, aber die Preissteigerung von Lebensmitteln ist bereits eingetroffen.


Lon Nol, der General, der 1970 den kambodschanischen König absetzte und das Land sowohl verstärkt in den Vietnamkrieg (auf amerikanischer Seite) hineinzog als auch in den intensivierten Bürgerkrieg (mit den Roten Khmer), welcher schließlich mit Pol Pots Herrschaft endete, soll 1972 monatlich über 20.000 US$ für Wahrsagerdienste bezahlt haben. Wir wissen nicht, was ihm prognostiziert worden ist - aber wir wissen, dass er sich rechtzeitig ins Ausland absetzte, um den Roten Khmer nicht in die Hände zu fallen. Wahrsagerdienste hatten in Kambodscha schon immer Konjunktur.


Meine zukunftsgerichtete Frage ist natürlich keine zu Leben und Tod. Trotzdem messe ich der Antwort großes Gewicht bei. Deshalb lasse ich mich von meiner Lehrerin durch die Wirrnisse des Orussei-Marktes schleppen. Das ist einer dieser Märkte, die kahle Betongaragen-Räumlichkeiten in Tausendundeine-Nacht-Basare verwandeln, in denen es alles gibt von gerösteten Heuschrecken über rosa Schnürkorsetts bis hin zu Sandelhoz-Buddha-Amuletten - und genau in dieser Anordnung nebeneinander - und in denen man, wenn man mit meinem Orientierungssinn geschlagen ist, bis ins Rentenalter umherirren kann. Aber da ich eine wendige Einheimische bei mir habe, verkürzt sich der Weg ungemein, und wir stehen bald vor einem Plastiktisch mit karierter Decke.


So hatte ich mir meine Wahrsagerin vorgestellt. Sie trägt über dem fülligen Busen eine schwarzrote Blümchenbluse; alles wackelt, wenn sie lacht - und sie lacht viel, vor allem über mich und mein ungläubiges Staunen. Aber dazu kommen wir später. So betrachte ich zunächst neugierig ihre Goldzähne und die Diamantringe, die Zeugnis von ihrem Erfolg in der Branche ablegen und für Vertrauen bei der Kundschaft sorgen. Ich setze mich an ihr Tischchen auf einen Plastikhocker in Kniehöhe. Meine Lehrerin erklärt mir, dass mir hier die Zukunft aus grünen Blättern gelesen wird. Aus einem Körbchen darf ich mir eine Anzahl heraussuchen, die die Wahrsagerin in eine lange Reihe legt und aufmerksam studiert.


Zuerst bekomme ich Allgemeines und reichlich Vages über mich zu hören. Das fängt so an: Wenn ich verheiratet wäre, dann hätte ich zwei Kinder. Das ist nun keine so brillante Aussage für eine erfolgreiche Flora-Astrologin: Was heißt denn da "wäre"? Also, das müsste sie mir doch sofort ansehen ... Ich runzele die Stirn und will ihr nun endlich meine Frage stellen. Denn das mit den Kindern weiß ich selber wohl besser. Aber ich komme nicht zum Fragen. Denn plötzlich lacht sie, der Busen wogt, sie beugt sich nach vorn, mit verschwörerischem Augenaufschlag. "Nein", sagt sie (über meine dolmetschende Lehrerin), schlicht: "Nein." Und dann sagt sie mir die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe, zur Antwort, die sie mir schon gegeben hat. Einfach so. Jetzt bin ich doch perplex. Ich muss reichlich blöd aussehen, denn meine Lehrerin und meine Wahrsagerin lachen laut und reden eifrig miteinander auf Khmer. Mit einem so entschiedenen Nein habe ich nicht gerechnet. Mal sehen, wie ich auf meine Zukunft gestaltend einwirken kann. Ist da vielleicht doch ein klitzekleines Ja im Nein? Kann ich selber etwas dazu beitragen, um das Nein in ein Ja zu verwandeln? Jetzt wird meine Wahrsagerin ernst und sehr streng. Sie schüttelt den Kopf und hebt abwehrend die Hände: NEIN! Ich kann sie zu keiner anderen Aussage bewegen.


Ich sitze verdattert auf dem Plastikstühlchen. Meine Wahrsagerin will für ihre Dienste 6.000 Riel. Der Fall ist damit abgeschlossen, für sie jedenfalls. Ich gebe ihr zwei US$, also einen 25%igen Aufschlag, was sie freut, aber nicht zu geänderter Interpretation veranlasst. Eine nicht korrumpierbare Wahrsagerin ... Ich stehe sehr langsam auf. Meine Lehrerin hat den Eindruck, dass sie mich trösten und sogar stützen muss. Was für ein merkwürdiges Gefühl hat mich da gerade erwischt! Tja, die Wahrheit liegt in den grünen Blättern, vielleicht. Demnächst werde ich erfahren, wie weit ich kambodschanischen Wahrsagerinnen vertrauen kann - und das werde ich euch natürlich wissen lassen.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 27. Juni 2008.


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