Was wäre, wenn ...

März 2007.


Was wäre, wenn ... ich in Kambodscha geboren wäre.
Eine Geschichtsstunde aus Anlass meines Geburtstages.





Ich sitze im Bus, der mich von Siem Reap nach Phnom Penh zurückbringt. Die Nationalstraße Nr. 6 ist inzwischen eine gut befahrbare Landstraße, auf der ich nach einem Ausflug zu den Tempeln von Angkor nach Hause gebracht werde. Es war ein aufregendes Wochenende. Ich habe noch den Schrecken in den Gliedern, wie mich ein Gewitter mit krachenden Blitzen und unmittelbar nachfolgenden Donnerschlägen eine halbe Stunde in einer halbverfallenen Galerie des Tempels Ta Prohm festhält und wie sich die roten Staubwege vor meinen Augen in Schlammseen verwandeln. Ich fühle noch den Zauber, den das Gesichtchen der Steingottheit verbreitet, das die Wurzeln eines Riesenbaumes von ihrer Überwucherungsaktion auf den Tempelmauern ausnahmen und dem vor 800 Jahren ein jetzt namenloser Steinmetz das zeitlose Lächeln schenkte.


Die Fahrt für die cirka 300 Kilometer zur Hauptstadt dauert sechs Stunden. An mir vorbei ziehen endlos Holzhäuser auf Stelzen, dahinter ausgetrocknete Reisfelder, hier und da 20 Meter hohe Zuckerpalmen, hier und da entenhütende Kinder, Wasserbüffel, Zeburinder. Wenn ich in Kambodscha geboren wäre, würde ich das alles aus meiner Kindheit kennen. Mein Leben wäre geprägt vom Reisanbau-Zyklus Trockenzeit (November bis April) und Regenfall (Mai bis Oktober), wenn ich als Bauernkind auf dem Land groß geworden wäre, und von der Möglichkeit, eine mehr oder weniger gute Ausbildung zu bekommen, wenn meine Eltern in der Stadt gelebt hätten. Am Ende des 2. Weltkrieges besaß Kambodscha keine Universität und nur eine Oberschule.


Zu meiner Geburt 1952 sind die Franzosen noch/wieder Herren des Landes, nach einem kurzen Interregnum der Japaner 1942-1945. Kambodscha ist Teil von «Indochine», bestehend aus Vietnam, Kambodscha und Laos. Aber die Herrschaft der Franzosen, die mit einem Protektoratsvertrag mit König Norodom 1863 begann, ist längst heftig erschüttert. 1952 kontrollieren kommunistisch orientierte Guerillas mit Hilfe der vietnamesischen Freiheitskämpfer Vietminh 1/6 des kambodschanischen Staatsgebietes (siehe David Chandler, „A History of Cambodia“, 2. Aufl., 1996, S. 180). Unterschiedliche Fraktionen von Bewaffneten, die im Namen der Nation, des Königs, eines Generals oder auf eigene Rechnung operieren, werden das Land auch nach scheinbaren Befriedungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht zur Ruhe kommen lassen.


Am 9. November 1953, als ich mich an den ersten Worten wie „Wustersum“ (für Luftballon) und „Mimi“ (statt Helga) versuche, erklärt König Sihanouk für sein Land die Unabhängigkeit von Frankreich. Mit Stolz weist er immer wieder darauf hin, dass Vietnam die französische Kolonialherrschaft erst ein halbes Jahr später (mit dem Sieg über die französischen Truppen bei Dien Bien Phu) abschütteln kann. Im Mai 1954 beendet die Genfer Konferenz den französischen Traum vom Imperium in Südostasien endgültig.


Für Kambodscha beginnt eine wechselhafte Zeit. Das Land ändert nicht nur seine Verfasstheit und seine Verfassung in kurzen Abständen, sondern – für die Ausländer - auch seinen Namen. „Kambodscha“ und „Kampuchea“ sind auf kambodschanisch ein und dasselbe, es bezeichnet das Land der Kambodschaner, die sich selbst Khmer nennen. Die Bezeichnung „Kambodscha/Kampuchea“ wird nach einer Gelehrtenauffassung abgeleitet von „Kambuja“, das selbst kein Ausdruck der Khmer-Sprache ist, sondern aus dem Sanskrit stammt und für einen Stamm in Nord-Indien verwendet wurde (siehe Serge Thion, „Watching Cambodia. Ten Paths to Enter the Cambodian Triangle“, 1993, S. 236). „Kambu“ bedeutet nach dieser Meinung „Dieb“, denn der nordindische Stamm soll ein Piratenclan gewesen sein. Andere Ethymologen behaupten, „Kambu“ sei einfach nur ein männlicher Vorname, und ein gewisser Kambu habe das kambodschanische Reich in grauer Vorzeit gegründet (siehe „Lonely Planet – Cambodia“, 2005, S. 36). Sei es drum - die Kambodschaner benutzen ohnehin lieber eine andere Bezeichnung für ihre Heimat: „srok khmer“, „Land der Khmer“.


Diese politischen Systeme hätte ich also nach der Unabhängigkeit meines Khmer-Landes erlebt:
1953 – 1970 Königreich Kambodscha
1970 – 1975 Republik der Khmer
1975 – 1979 Demokratisches Kampuchea
1979 – 1989 Volksrepublik Kampuchea
1989 – 1993 Staat Kambodscha
ab 1993 Königreich Kambodscha


Sihanouk ist eine schillernde Figur, der seine Untertanen „Kinder“ nennt, aus dem Staatssäckel die Produktion von Filmen finanziert (mit sich in der Hauptrolle, natürlich als König), der einer kleinen kommunistischen Guerillatruppe, mit der er später paktieren und die er dann bekämpfen wird, den Spitznamen „Rote Khmer“ gibt, der mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai befreundet ist, der sich mit nordkoreanischen Leibgarden umgibt und der das Land regiert wie seinen Privathaushalt. Er hat Freude an politischen Entscheidungen, aber keine Freude an der Vorstellung, sein Land in einen modernen Rechtsstaat zu verwandeln. Und dennoch würde ich mich an meine kambodschanische Kindheit und Jugend in den 60er Jahren als ein goldenes Zeitalter erinnern, golden in Vergleich zu dem, was danach kommt. 1970 wird Sihanouk abgesetzt, von einem General, Lon Nol, dem er selbst zu diesem Posten verholfen hat.


In diesem Jahr wird das kleine Kambodscha endgültig in den Krieg hineingezogen, den seine östlichen Nachbarn, die beiden Vietnam gegeneinander und mit den USA bzw. gegen die USA führen. Am 30. April marschieren amerikanische und südvietnamensische Truppen ein: Der sog. Ho Chi Minh-Pfad, auf dem die Vietcong ihren Nachschub organisieren, führt zu über einem Drittel durch kambodschanisches Gelände. In der Folge entladen amerikanische B-52 ihre tödliche Fracht auch hier. Es wird vermutet, dass mehr als 250.000 kambodschanische Zivilisten dabei getötet werden. Die kambodschanische Regierung gewährt keinen Schutz, Hilfsmittel kommen vielfach nicht bei den Adressaten an, Korruption ist allgegenwärtig. Immer mehr Zivilisten und Soldaten fliehen, auch in die Wälder, viele zu den Kämpfern der Roten Khmer. Sihanouk, inzwischen im chinesischen Exil, fordert seine „Kinder“ über Radio Beijing dazu auf. Wer kann, geht weg aus Kambodscha. Lon Nol befragt für seine Regierungsgeschäfte Wahrsager und Sterndeuter, seine Soldaten sollen sich mit buddhistischen Amuletten vor gegnerischen Kugeln schützen, denn ihre Ausrüstung vertickern die Offiziere auf dem schwarzen Markt (siehe Haing Ngor, „Survival in the Killing Fields“, 1989, S. 48). Inzwischen sind die Seiten unklar, das Land befindet sich im Bürgerkrieg. Zwei Wochen vor dem Fall von Saigon hat sich Lon Nol bereits ins Ausland abgesetzt, die Roten Khmer stehen vor der Hauptstadt. Im April 1975 erhoffen sich viele von ihrem Einmarsch endlich Frieden, ein Ende des Mordens.


Was aus mir unter dem Regime der Roten Khmer geworden wäre, vermag ich mir nicht vorzustellen. Viele in meinem Alter gingen anfänglich als idealistische Teenager in den «maquis», den Untergrund, zu den Roten Khmer. Dann übernahmen sie die Macht. Bis heute zeigen sich die Spuren dieser Herrschaft überall, selbst dem Touristenblick: Wer seine Intellektuellen-Schicht ausrottet, wer Wissen und Bildung gleichsetzt mit Angst vor Folter und Ermordung, wer Familien in einem traditionell familienbetonten Land zerreißt, wer Tempel niederbrennt und Mönche erschlägt, der hindert Normalität und Entwicklung seines Landes in unvorstellbarer Weise für unabsehbare Zeit. Denn er zerstört die Seele des Volkes, das Vertrauen in die eigene Kraft, die Liebe zum Leben, die Hoffnung auf die Zukunft. Die Nachgeborenen wachsen zwar ohne entsprechende Erfahrungen heran; aber niemand weiß, in welcher Form die Elterngeneration das Erlebte und Erlittene weitergibt. Und an Fachkräften fehlt es noch überall. Bis heute ist in Kambodscha nur ein gebürtiger Kambodschaner als Röntgenassistent tätig. Er machte seine Ausbildung in Deutschland und ist im Rahmen deutscher Entwicklungshilfe zurückgekehrt, um Landsleute auszubilden: Kambodscha hat inzwischen zwar Röntgengeräte, aber keine Menschen, die sie zu bedienen wissen.


Wie schwer es ist mit dem Frieden und dem Wiederaufbau in Kambodscha, zeigen die beiden Jahrzehnte nach der Befreiung von den Roten Khmer. Am 7. Januar 1979 marschieren vietnamesische Truppen mit kambodschanischer Unterstützung in Phnom Penh ein. Dabei ist ein ehemaliger Kämpfer der Roten Khmer, mit dem ich in dieselbe Grundschulklasse hätte gehen können, denn er ist nur zwei Wochen jünger als ich (siehe Harish C. & Julie B. Mehta, „Hun Sen. Strongman of Cambodia“, 1999, Vorwort xxii und S. 74). Hun Sen wird zunächst Außenminister der neu gebildeten Regierung, dann Premierminister. Die Roten Khmer sind übrigens als Organisation offiziell bis 1996 im Land aktiv. 1989 packen die letzten vietnamesischen Regierungsberater ihre Koffer. Hun Sen ist jetzt Regierungschef im Staat Kambodscha.


Die Wahlen vom Mai 1993 werden von der UNO überwacht. Der Einsatz der UNTAC (UN Transitional Authority in Cambodia) ist der bis zum heutigen Tag teuerste und umstrittenste Job einer Blauhelmtruppe. Hun Sen schafft es mit seiner Partei CPP (Cambodian People's Party) nicht auf den ersten Platz. Der Posten des Premierministers, der eigentlich dem Wahlsieger Prinz Ranariddh gebührt, wird um des lieben Friedens willen „geteilt“. Für kurze Zeit ist Hun Sen zweiter Premierminister, ein erstaunlicher Vorgang, der aber nur bis 1997 anhält und auf kambodschanische Art mit Waffengewalt geregelt wird. Den Posten des Premierministers hat Hun Sen inzwischen wieder ganz allein für sich und so lieb gewonnen, dass er jüngst in der Tageszeitung „The Cambodia Daily“ verkündete, er wolle das Amt frühestens nach Vollendung des 90. Lebensjahres aufgeben. Da stört es auch nicht weiter, dass Kambodscha wieder Monarchie geworden ist. Der neue König, Sihamonie, ist ein Jahr jünger als ich, und aus verschiedenen Gründen hätten wir sicher nie miteinander gespielt. Aber wer weiss. Welcome to Cambodia.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. März 2007.


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