Theaterferien

Juli 2007.


Theaterferien.
Die kambodschanische Thalia ist außer Dienst.





Nach einem halben Jahr in Phnom Penh kenne ich die Straßen besser und weiß, wo mir der Sturz in die Abgründe der Kanalisation droht und welche Ampeln mir nur zum Scherz ihr grünes Licht zeigen. Wenn ich ansonsten allseitig-umsichtig auf den Verkehr, streunende Hunde und mobile Garküchen achte, kann ich beim Spaziergang nachdenken. Was ist "good governance", was sollte das Land entwickeln im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (wie das jetzt heißt und an der ich teilhabe), und was wäre ganz einfach gut zu haben? Eine freie Presse, eine unabhängige Finanzkontrolle, ein modernes Theater ...


Am 12. November 1968 weiht Kambodscha sein Nationaltheater ein. Wie es sich für ein Königreich gehört, gibt es dem Bauwerk einen noblen Namen und benennt es nach dem Vater des damaligen Königs "Preah Suramarit National Theater". Mit dem Fluss Bassac in Sichtweite kommt aber bald eine weniger förmliche Bezeichnung, und so ist das Haus auch jetzt noch bekannt, als "Bassac Theater", obwohl es nur wenige Jahre tatsächlich als Theater genutzt wird. In der Rückschau werden die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als "goldenes Zeitalter" Kambodschas betrachtet, in Vergleich zu dem, was schon kurz danach mit dem Putsch von 1970 kommt, mit dem Bürgerkrieg und den Roten Khmer. Ein goldenes Zeitalter jedenfalls für eine urbane, mittelständische Klasse, die sich westlich orientiert und die sich an der Veränderung des Stadtbildes erfreut. Der damals noch junge König Sihanouk hat kein Interesse an demokratischen Neuerungen (was kein Wunder ist in einem Land, das nie andere als autoriäre Strukturen gekannt hat), aber Vorstellungen über eine neue Architektur, modern und wegweisend.


Vann Molyvann ist sein Mann zur rechten Zeit. 1926 in der Provinz Kampot geboren, mit Rechts- und Architekturstudien in Phnom Penh und Paris, kann er nach seiner Rückkehr 1956 das neue Gesicht der Stadt gestalten, die bald ein Olympiastadion erhält, neue Universitätsgebäude, Villen für die Wohlhabenden, eine Ausstellungshalle. Und schließlich kommt auch das Theater. Es wird ein schöner Bau. Vann Molyvann lässt sich vom "organischen" Stil von Frank Lloyd Wright inspirieren, der seine offen gestalteten Häuser harmonisch in die Landschaft einfügte und mit seinen geometrischen Formen die deutschen Bauhäusler beeinflusste, und von Le Corbusier, dessen klare Linien und flexible Innengestaltung Vann Molyvann bewundert. Er versteht die Beziehung zwischen der Stadt und ihrem vielen Wasser und baut Leichtes und Lichtes, dem tropischen Klima angemessen. Das macht ihn so verschieden von den heutigen Stadtherren, die einfach Seen und Kanäle zuschütten lassen, weil der Verkauf von Bauland Geld bringt und die Folgen der monsunbedingten Überschwemmungen sie nicht interessieren. Und das macht ihn so verschieden von den neureichen Bauherren des 21. Jahrhunderts, die wahre Retro-Wunder fabrizieren, aus Pomp und Gips, mit korinthischen Säulen, Angkor-Zitaten und vergoldeten Lampen, mit hohen Mauerumsperrungen und Stacheldrahtrollen.


Das Theater ist konzipiert in Form eines Dreiecks, die Spitze wie ein Schiffsbug, mit dem Zuschauerraum an der breiten Seite. Die Dreiecksform findet sich überall, einzeln oder zusammensetzt zu langgezogenen Rechtecken wie die Fliesen in der Lobby im ersten Stock, die mit ihrem lebhaften Muster in Schwarz, Weiß und Rot den Kontrast bilden zu hellen Wänden. Die schmale Fensterfront zieht sich an den Seiten entlang wie ein gläsernes Band und gewährt Ausblick auf den nahen Fluss. Für die Belüftung sorgen Öffnungen in der Wand, die wie hinter Fischschuppen versteckt wirken, und vom Erdgeschoss her garantiert der V-förmige Teich Verdunstungskühle. Ich blicke von der freischwebenden Treppe hinab und erkenne einen klitzekleinen schwarzen Fisch, der wohl einzige dauerhafte Bewohner in dem ansonsten verlassenen Haus im Juli 2007. Das Gebäude hat die Zeit nach 1975 leerstehend überlebt, bis sich schließlich 1994 eine Renovierung ermöglichte. Ein Bauarbeiter vergaß, in der Mittagspause den Lötkolben auszustellen. Der Rest ist Geschichte: Der Zuschauerraum brannte völlig aus, das Dach darüber stürzte ein. Da der Bauunternehmer nicht versichert war und niemand für die Schadensbeseitigung aufkam, blieb das Theater fortan Ruine.


Durch eine Türöffnung ohne Tür trete ich hinaus in das, was einmal der Zuschauerraum war. Die roten Backsteinwände stehen noch, hier und da hat das Feuer schwarze Spuren hinterlassen. Die Stufen für die Stuhlreihen sind grün überwachsen, ein Baum von stattlicher Größe gewährt Schatten. An einer Mauer steht in krakeligen Buchstaben: "I want to be Successful in the future, learn whil you are young" (Rechtschreibfehler im Original). Ich finde Theaterruinen traurig und mag ihrem morbiden Charme nicht erliegen: Zur Zeit hat Kambodscha kein Nationaltheater, egal, was erzählt wird. Denn wie so oft in Kambodscha weiß niemand etwas Genaues, doch die Gerüchte kennen alle.


Das Gelände sei verkauft, berichtet der Vorsitzende der kambodschanischen Schauspielervereinigung der Tageszeitung "The Cambodia Daily", die diese Mitteilung am 16. Juni 2007 abdruckt: Die Schauspieler würden sich an den Premierminister wenden, der ihnen weiter ermöglichen solle, das zerstörte Theater als Übungsstätte zu nutzen. Dass der Premierminister direkt um Hilfe angegangen wird wie früher der König oder beide gemeinsam und zugleich oder beide nacheinander, ist Usus in Kambodscha. In einer autoritär strukturierten Gesellschaft zählt nicht die Zuständigkeit, sondern Status und Macht. Der neue König Sihamoni hat bereits öffentlich geäußert, man möge das "Bassac Theater" wieder aufbauen. Kurz darauf, am 27. März 2007, steht in der "International Harald Tribune" zu lesen, dass das Gelände an eine lokale Telekom-Gesellschaft verkauft worden sei, die das Theater für ein Konferenzzentrum und einen Sendeturm abreißen wolle.


Das neue Nationaltheater solle neben einem glitzy Nachtclub ("Spark Nightclub") entstehen, so der Untersekretär des Kulturministeriums, und natürlich sei das Gelände des "Bassac Theaters" nicht verkauft. "Wir verlegen das Theater nur an einen anderen Ort, weil wir uns schämen, so ein zerstörtes Gebäude weiterzubenutzen." Und der Staatssekretär ist gar nicht erst zu sprechen für die Presse. Damit die Gerüchte weiterleben können. Und es spielt keine Rolle, dass der Baumeister Vann Molyvann das Theater für restaurierbar hält.


Wie absurd! Wieder "aufgebaut" wurde dagegen weiter nördlich für 2,25 Millionen US$ eine Brücke, die über Sand führt, weil der entsprechende Kanal zugeschüttet worden ist. Die französische Steinbrücke, die bekannt war für ihre Brüstung in Form einer mehrköpfigen Schlange (Naga), wurde 1892 für 30.000 Piaster gebaut und in den 30er Jahren abgerissen, weil der Kanal, der die europäische Stadt im Norden von der chinesischen und der kambodschanischen Stadt im Süden trennte, nicht mehr gebraucht wurde. So ist also dieses Brückengeländer im Jahre 2007 wieder da – und viele wissen nicht, dass hier, unter dem Norodom Boulevard, einst Wasser floss, wo jetzt ein Grünstreifen entsteht.


Als ich im Mai um die Ruine des "Bassac Theaters" herumlaufe, treffe ich einen alten Mann. Er sitzt auf einem Schemel und bemalt ein langes Stück Holz mit Goldbronze, eine geschnitzte Naga mit nur einem Kopf, eine Theaterrequisite. Auf meine Frage erklärt er mir, dass seine Truppe nicht in Kambodscha auftreten werde, sondern in Malaysia. Sie würden hier nur üben und ihr Material lagern. In Phnom Penh habe niemand Interesse für ihre Kunst.


Bei meinem zweiten Spaziergang, Monate später, fällt mir beim Verlassen des Geländes der königsblaue Bauzaun auf. Noch im Mai war hier eine andere Umgrenzung, ein filigranes Gitter in Grau, das kaum auffiel. Der potentielle neue Eigentümer setzt offensichtlich mit seinem Blech andere und auffälligere Farbakzente. Aber noch ist das Tor unverschlossen, erstaunlicherweise. Noch steht hier kein Wachmann in dunkelblauer Uniform, der den Zutritt verwehrt. Noch weiß niemand hier wirklich, was mit dem Theaterschiff passieren wird, und ich kann hoffen, dass es erhalten bleibt, und ihm für den Notfall wünschen, dass es auf dem Bassac in sichere Gefilde segelt, beschützt von einem Rhinozeros und einer kambodschanischen Thalia. E la nave va.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 30. Juli 2007.


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