Über den Dächern von Phnom Penh

Februar 2007.


Über den Dächern von Phnom Penh.
Ich lebe mich ein und teile.





Hurra, denke ich am 7. Februar. Eine Woche Verspätung zwar, aber die Bauarbeiten sind endlich abgeschlossen, der Lack auf den Dielen getrocknet und die pompösen rot-weissen Ledersessel vor dem Fernseher in Positur gestellt. Ich habe ein eigenes Heim, mit traumhaftem Blick auf die Stadt, die sich noch keine Wolkenkratzer leistet und für die ein sechsstöckiger Bau wie meiner im Sinne des Wortes ein “Hochhaus” ist. Dass die Mopeds an Schlaflosigkeit leiden und besonders gut von oben in ihrem Dauerbetrieb zu hören sind, dass die Stadt auch des Nachts voller krähender Hähne (!) und jaulender Hunde ist und dass Hochzeitsmusikanten für die mehrtägige Feierlichkeit in der Nebenstraße natürlich vor Sonnenaufgang proben müssen (präzise: um 4 Uhr und 30 Minuten), wird mir erst später auffallen. Da die Freude über das neue Zuhause alles überwiegt, baue ich es nicht zum “castle” um. Das rächt sich jetzt. Jedenfalls habe ich nun zahlreiche Mitbewohner, die weder Miete zahlen noch einkaufen gehen – statt dessen sitzen sie mit am Frühstückstisch und fallen mir dutzendweise in die Nudelsuppe. Meine deutschen Apfelkekse sind ihrer Gefräßigkeit bereits anheimgefallen. Die eiserne Reserve ist nun dahin, und ich werde ab sofort zur Dauer-Reis-und-Nudel-Esserin mutieren. Gegen letzteres habe ich ja nix. Aber dass ich meine Wohnung mit mehreren Armeen von chitinpanzergewappneten Mini-Monstern zu teilen habe, die es geschafft haben, mir keinen Krümelweit auszuweichen und trotz bester Ernährung durch deutschen Direktimport weiter feste in meine weissen Arme und Waden zwacken, finde ich denn doch ziemlich unerfreulich. Dabei wollte ich gerade ertesten, ob ich mich schon auf dem buddhistischen Pfad geradeaus bewegen kann. "Respektiere jedes Lebewesen." Ich glaube, ich komme auf diesen Pfad erst nach einem kleinen Exkurs über den Ameisenweg auf meinem Holzfußboden zurück.


Völlig unfreiwillig mache ich also regelmäßig den “Justin O. Schmidt-Test” und komme bisher immer wieder auf das gleiche Ergebnis, nämlich Nr. 2 auf seiner Skala. Die Erklärung zu diesem Vorgang geht wie folgt:


In Europa gibt es 180 Arten von Ameisen, in Asien 2.080. Von den 2.080 asiatischen Arten hat sich eine meine Wohnung als Siedlungsort und Wirkungskreis auserkoren. Dabei kann ich Ameisen – wie auch viele andere Insekten – so gar nicht leiden, jedenfalls nicht auf meiner Nasenspitze und nicht auf meiner Gabel. Es gibt nur eine einzige Ameise, die ich jemals prima fand, und die war nicht einmal eine echte: Woody Allen als Ameise Z im einzig wahren Insektenfilm (“Antz”, 1998). Z wuchs mir wegen ihrer nachvollziehbaren Neurotisierung in Folge mütterliche Vernachlässigung ans Herz. Wie traurig das aus ihrem Mund klingt: “Wenn man das mittlere Kind ist in einer Familie von fünf Millionen, bekommt man nie die Zuwendung, die man braucht.” Meine Ameisen bekommen jetzt alle Zuwendung, die sie brauchen, auch wenn die recht handfest ist und für mich ein schlechtes Karma anhäuft. Ich mag einfach nicht bekrabbelt und angeknabbert werden, noch dazu von intakten, kinderreichen Familienverbänden, wenn auch vielleicht nicht gleich von fünf Millionen. Und das bringt uns nun geradewegs zu Herrn Justin O. Schmidt.


Justin O. Schmidt ist Insektenforscher mit einer professionellen Leidenschaft, ganz und gar im Sinne des Wortes: Er ist auf Insektenbisse spezialisiert. So haben ihn nach eigenen Angaben fast alle Sorten von Bienen, Wespen und Ameisen gebissen. Er ließ es zu, für die Wissenschaft. Seine schmerzhaften Erfahrungen machte er aber auch für andere nutz- und nachfühlbar, indem er einen Schmerzindikator erfand, den “Schmidt Sting Pain Index”. 150 verschiedene Insektenarten sind von ihm nach Bissintensität und Schmerzempfindungen katalogisiert worden. Auf der Skala (die sich von schwach bis intensiv steigert) rangiert die Schweiß-Biene (“sweat bee”) unter Nr. 1. Justin O. Schmidt beschreibt den Biss als “leicht und fruchtig”, was mich eher an einen Wein aus dem Veneto erinnert. Weiter stellt er fest, der Biss erinnere ihn an “einen Funken, der ein einzelnes Haar auf dem Oberarm verbrennt”. Zur Sache geht es mit dem Biss der Pistolenkugel-Ameise (“bullet ant”, nomen est omen), der auf der Skala eine Nr. 4 erhält: “ein deutlicher, intensiver, klarer Schmerz, als würde man über brennende Kohlen mit einem 5 cm langen Nagel im Hacken laufen”. Wer will das schon ... Meine kleinen Biester geben mir reichlich Gelegenheit, ihre Bissleistung zu benoten. Bisher stufe ich sie zwischen Nr. 1 und Nr. 2 ein. Seit heute morgen teile ich mein Zuhause mit einem weiteren Gast, der sich vielleicht diätmäßig für Ameisenfleisch interessiert: Ein kleiner Gecko macht seine Erkundungsrunde über die Stuckdecke im Wohnzimmer.


Ameisengift soll aber auch seine guten Effekte haben, so sagt man jedenfalls. Und vielleicht bin ich dank dem Ameisengift angereicherten Blut so vergnügt bei meiner Arbeit. Mein erster Workshop lief nach meiner Einschätzung recht gut. “How To Ask Questions The Smart Way. Interviewing Techniques For Auditors” heißt er. Meine Workshop-Teilnehmer hatten es nicht so mit dem Fragen (aktive Mitarbeit ist hier unbeliebt), versicherten mir aber, dass sie viel gelernt zu haben glaubten und gern weiter an meinen Rechnungssprüfungsweiterbildungsveranstaltungen (ha – was für ein schönes deutsches Wort - und das ist genau das, was ich hier veranstalte, bloß auf englisch, wo es einfach “audit training” heißt) teilnehmen würden. Ich war sehr erfreut über die überwiegend positive Resonanz. Die Workshop-Teilnehmer füllten artig, anonym und sehr ausführlich ihre Bewertungsbögen aus. Allerdings wurde ich beim Durchschauen der Bögen doch etwas nachdenklich. Denn unter der Rubrik: “Welche Trainings würden Sie gern in der nächsten Zeit bei mir absolvieren?” hatten zwei geschrieben: “Ich möchte gern lernen, wie ich Fragen auf eine smarte Art und Weise stellen kann.”


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 21. Februar 2007.


© Mimi Productions