Die Hochzeit im ehemaligen Gefängnis

Dezember 2007


Die Hochzeit im ehemaligen Gefängnis.
Paillettenbustiers, Whiskey im Wasserglas und Kaugummi in Goldpapier.





O je – das ist hier also der Dezember, denke ich. Die KÜHLE Jahreszeit. Und warum steigt das Thermometer wieder auf über 30 Grad??? Es gibt inzwischen Weihnachtsmänner in Phnom Penh (aufblasbar wie Gummitiere fürs Schwimmbad und riesengroß), und in manchen Läden laufen die Verkäuferinnen kichernd mit roten Bommelmützen herum. Den Weihnachtsmann halten sie für den Christengott, und eigentlich ist ihnen (naturgemäβ) unter der Kopfbedeckung viel zu heiß. Ich fühle mich für weihnachtliche Lieder auch zu verschwitzt, obwohl ich tatsächlich mit Kollegen und ihren Familien eine Mekong-Fahrt unter Absingen von "Stille Nacht" und "Morgen, Kinder, wird's was geben" absolviere, ganz zünftig mit selbstgebackenen Plätzchen und Glühwein (jawohl! mit GLÜHwein!). Trotzdem wird mir dieser Dezember nicht deshalb in besonderer Erinnerung bleiben, sondern weil ich zum erstenmal zu einer Hochzeit eingeladen war, bei der die Braut und ihr Gefolge funkelten und glitzerten wie der schönste Baumschmuck bei uns am 24. Dezember. Es war ein Ereignis!


Ich habe zwar keine Erfahrung mit dem Ausrichten der eigenen Hochzeitsfeierlichkeit, aber ich weiβ jetzt definitiv: So einen Herdenauftrieb, wie ich ihn in Phnom Penh erlebt habe, könnte ich als Braut weder kräfte- noch portemonnaiemäßig ertragen. Schon als geladener Gast und nur zum Sitzen und Essen verdonnert, bringt mich die Veranstaltung an den Rand meiner physischen und psychischen Möglichkeiten. Ich werde versuchen, mich in geordneter Folge zu erklären.


Es fängt alles harmlos mit einem zartgelben Umschlag an. Der ist wunderschön in goldener Nudelschrift – man erinnere sich – verziert und führt dann korrekt und mittig, in langweiligen lateinischen Lettern, meinen vollen Vor- und Zunamen auf. Kollege Sothear strahlt mich bei der Übergabe an: "Ich heirate!" Ich kann nicht sagen, ich wäre nicht gewarnt worden – ich habe eine vage Vorstellung davon, was es heißt, in Kambodscha am Ritual einer Hochzeitsfeierlichkeit teilzunehmen. Schließlich stolpert man jetzt alle Nase lang auf dem Bürgersteig über abgesperrte Gebiete: Unter rot-gelben Markisen stehen Tische dichtgedrängt, hier speist das Hochzeitsvolk, das ohne Sondergenehmigung, gern auch tagelang, öffentliches Straßenland bevölkert. Aber meine Einladung zum abendlichen Empfang führt mich in eine besondere Lokalität.


Zum Glück habe ich den Kollegen Reaksmey, der mir die hiesige Welt erklärt und sich damit bei mir eine Goldmedaille als Held der Khmer-Kulturvermittlung verdient hat. Die Einladung ist für den Nachmittag ausgesprochen, da können wir also gleich vom Büro aus hinfahren. Ich packe des Morgens den langen Rock in die Plastiktüte und ziehe mich zu gegebener Zeit auf dem Rechnungshof-Klo um. Während der Gentleman eine kambodschanische Hochzeit auch im Polohemd durchleben darf (nur als Gast, wohlgemerkt – nicht als Bräutigam), wird von dem weiblichen Pendant eine Transformation erwartet, die ich – wie ich bald feststellen werde – nur bedingt erfolgreich absolviert habe. Soviel Beperltes – soviel Vergoldetes – soviel Gerüsche und Geraschel! Zunächst aber gilt es für mich, die Fahrt vom Rechnungshof zum Tatort Hochzeitsrestaurant unbeschadet zu überstehen. Schon bald sitze ich wie Kriemhild auf ihrem Zelter, d.h. im Damensitz auf Reaksmeys Moped. Plötzlich verstehe ich, warum ich so häufig einen einzelnen Damenschuh auf der Straße finde: Mädels, setzt euch doch einfach mal seitlich auf ein Moped und versucht, keinen eurer Latschen zu verlieren. Bedingung dabei ist natürlich, dass ihr nur einen Fuß abstellt. Genau: Eine hohe Erfolgsquote beim Vorweisen der vollständigen Fußbekleidung ist nur bei Erfahrung auf dem Rücken eines Zirkuspferdes garantiert. Die fehlt mir zwar, doch hole ich mir einen leichten Krampf im Spann und keinen Aschenputtel-haften Verlust.


"Weißt du eigentlich, wo wir sind?" fragt mich Reaksmey, als ich, ein wenig steif, von meinem Sitz hinabgleite. Nun ja – dieses Restaurant ist ziemlich riesig, und ich habe keine Ahnung: Im Gegensatz zu mir weiβ jede/r in Phnom Penh, dass das hier einmal ein Knast war. Wie so vieles staatliche Eigentum der prosperierenden Hauptstadt ist auch dieses in private Hände überführt worden. Und so bin ich denn auf meiner ersten Hochzeit ... im Knast. (Nomen est omen?)


Figuren wie aus dem „Indischen Grabmal“ von Fritz Lang, sprich: wie aus dem Film, stehen als Begrüβungskomitee am Eingang, rechts der Bräutigam und seine Mannen, links die Braut und ihre Jungfern. Während ich Sothear trotz seiner goldverbrämten Uniformjacke noch erkenne, wird mir das beim nächsten Treffen mit der Braut nicht gelingen, wenn sie nämlich wieder wie ein Mensch aussieht. Jetzt trägt sie unter einer strassverzierten Tiara eine Langhaar-Lockenperücke und ist bis zur Unkenntlichkeit geschminkt. Wie man beim Film sagt: Sie war „in der Maske“, eine Khmer-Kleopatra mit falschen Wimpern, weiβ gepudert und rot bewangt. Ihre glänzende Kostümierung ist der Kleidung der Apsara-Schwebeengel aus Angkor nachempfunden – und drei Wechsel der Brokatgewänder werde ich in den knapp drei Stunden meiner Anwesenheit miterleben dürfen.


Am Spalier des Brautpaares und seiner Entourage vorbei werden wir ins Innere des Restaurants an einen runden Tisch geführt – und da Reaksmey und ich hier Gast Nr. 9 und Gast Nr. 10 sind (und jeder Tisch für zehn gedeckt ist), kommen sofort die Speisen. Wir essen Köstliches. Mehr können wir auch unmöglich machen, denn bis zum Geräuschebrei verzerrt, dafür aber herzzerreiβend laut dröhnt uns über eine Riesenlautsprecheranlage die Live-Musik ins Ohr. Die acht Herren an unserem Tisch lassen sich davon nicht verdrieβen – sie genieβen: Auf dem Tisch steht eine bald schon halb leere Flasche Whiskey. Auf russische Art füllen die Herren ihre Wassergläser und werden bald so laut wie die Musik. Sehr hübsche junge Damen schweben von Tisch zu Tisch und verteilen in Goldpapier eingewickelte Päckchen. Nach neugierigem Auswickeln bin ich doch etwas enttäuscht: Es ist Wrigley’s Spearmint, der Klasssiker in Grün-Weiβ.


Nach etlicher Zeit legt sich Erschöpfung nicht nur auf meine Ohren. Daher bin ich froh, als mein Begleiter zu anderen Verpflichtungen aufbricht und mir eine Heimfahrt auf dem Moped anbietet. Was mir folglich in den kommenden Stunden entgehen wird: die zweite Live-Band, noch mindestens drei Umkleidungen der Braut und eine des Bräutigams, der Anblick verschiedener Volltrunkener (sicher sind bald acht davon an unserem Tisch), ein Kreistanz in Zeitlupe, „Ramvong“ genannt, bei dem die Paare ihre Hände in Blumenbinderinnen-Gesten umeinander winden, und andere Lustbarkeiten.
Beim Gehen wird gezahlt. Nein, nein, nicht beim Ober für das Essen: Hier beglückt man das Hochzeitspaar (und die zahlenden Eltern) mit Geldgeschenken. Dazu muss man seinen Namen auf den Umschlag schreiben und kann sicher sein, dass Buch geführt wird: Nur das, was ich Sothear jetzt in das Kuvert gelegt habe, kann ich von ihm als Geschenk bei meiner Hochzeit zurückerwarten. Ob allerdings die Summe aller Umschlaginhalte zur Refinanzierung dieser Veranstaltung reicht, wage ich zu bezweifeln. Heiraten in Phnom Penh ist mehr oder weniger teuer, hier die Durchschnittspreise:


- Miete für Kleidung von Bräutigam/Braut (pro Nase) inklusive Make-up und Garderobiere, je nach Anzahl der Kleidungswechsel (drei- bis siebenmal) – US$ 250-750
- Bild-/Tonaufzeichnung – US$ 150 (VCD), US$ 180 (DVD), US$ 0,40 pro Foto
- Live-Band – US$ 170 – 250
- Dekoration (Blumen u.ä.) – US$ 60-180
- Miete pro Tisch (8-10 Stühle) – US$ 10-16
- Essen (pro Tisch) – US$ 60-150
- Getränke (ohne Alkohol, pro Tisch) – US$ 15
- zusätzliche Miete für das gesamte Restaurant und seine Infrastruktur (d.h. inklusive der Umkleideräume für die Brautleute) – US$ 150-380.


Man rechne mal zusammen! Kann es sein, dass ich 50 Tische gezählt habe? Beim Gehen fällt mir auf, dass das Restaurant eine Terrasse hat – und auch dort wird lustig-laut gefeiert - und es gibt offenbar drauβen so viele Tische wie drinnen!


Und was macht so ein Brautpaar, wenn der Abend und das rauschende Fest vorüber sind? Meine Sprachlehrerin Kamrang klärt mich auf: Das junge Paar wird für die erste Zeit seiner Ehe bei den Eltern der Ehefrau wohnen. Warum das? Na, der elterliche Rat – so sagt sie – wird doch gebraucht, die jungen Leute haben doch KEINE Ahnung vom gemeinsamen Eheleben!


Heute, Kinder, wird’s was geben – heute werden wir uns freu’n – welch ein Trubel, welch ein Leben wird in uns’rer Bude sein ... Was dem einen seine Weihnacht ist, das ist dem anderen seine Hochzeit. Auf dass es ein Leben lang halten möge!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 25. Dezember 2007.


© Mimi Productions

Von der Schlange, die ein Wasserdrachen ist

November 2007.


Von der Schlange, die ein Wasserdrachen ist.
Und von dem Land, das ein Meer war.





Wer schon einmal beim Anflug auf Phnom Penh ohne eine Sichtblende aus Flugzeugflügel oder Regenwolkenballung nach unten gucken konnte, dem wird Kambodscha in Erinnerung bleiben als hellbraune Plane mit vereinzelten grünen Tupfen (sechs Monate im Jahr) oder als riesige schwarze Wasserfläche, hie und da unterbrochen durch hell- und dunkelgrüne Quadrate (die restlichen sechs Monate des Jahres). Phnom Penh liegt immer mehr oder weniger im Wasser. Vier Flüsse kommen hier zusammen, von den zwei großen Seen ist zwar einer – aus Spekulationsgründen – zur Hälfte versandet, aber nasse Füße kann man sich das ganze Jahr über holen, wenn’s denn sein muss. Das Wasser gluckert sich eins und weiβ schon längst, wie es seinen Platz an der Oberfläche wieder einnehmen kann.


Die Verbundenheit mit dem Wasser teilt Kambodscha mit seinen südostasiatischen Nachbarn. Sogar die Symbole gleichen sich, was mit einem intensiven Kulturaustausch und einer langen gemeinsamen Geschichte zusammenhängt, denn einst gehörten Teile vom heutigen Thailand, von Laos und von Vietnam zum Königreich der Khmer, die von ihrer Tempelstadt Angkor über ein riesiges Reich herrschten. Überall in Angkor, das jetzt in seiner morbiden Ruinenschönheit Millionen von Touristen anzieht, begegnet man den steinernen Schlangen, die als „Nagas“ bekannt sind. Für die Kambodschaner sind das keine Schlangen, sondern Wasserdrachen. Es gibt sie in Ausführungen mit einem Kopf, dreien, fünf, sieben – eine Naga ist ausschließlich in ungerader Anzahl bekopft und wechselt den Namen, je nach Anzahl ihrer Häupter. Mit einem heisst sie „niëk“ und mit sieben „bos niëk riedsch“, „sehr mächtige Naga“, was ja naheliegend ist.


Die Naga gehörte immer schon in Kambodscha dazu und ist folglich auch Teil des Gründungsmythos dieses Landes. Eine Geschichte geht so: In grauer Vorzeit kam ein Mann über das Meer, der hieβ Prean Thong und heiratete Somaq, die Tochter des Naga-Königs. Das Paar wohnte zunächst im Schlangenpalast in einem Baum. Der Papa wollte nun seiner Tochter eine anständige Mitgift und ein eigenes Heim verschaffen und trank deshalb das Meer aus, das den Boden des heutigen Kambodscha bedeckte. Das Land, das so entstand, wurde Nokor Nok Thlok genannt, das Land des Thlok-Baumes. Denn es war ein Thlok-Baum, in den der Naga-König seinen Palast gebaut hatte.


Andere Mythen, die im Khmer-Land bekannt sind, aber ihren Ursprung in Indien haben, kamen mit dem Hinduismus und dem Buddhismus hierher. So kann man in Angkor den in Stein gehauenen Gott Indra betrachten, während er mit seinem Donnerkeil auf eine Wolke zielt: Die Wolke ist eine riesige Naga, die in ihrer Gier sämtliches Wasser geschluckt hat, das ihren Bauch sich riesig blähen ließ. Alle Götter und alle Menschen darben. Umsonst hatten sie die Naga gebeten, vom Wasser abzugeben. Die Naga verschlieβt sich dem Leiden, und die Not ist groβ. Erst wenn Indras Donnerkeil den Naga-Leib zerschmettert hat, wird das Wasser frei gesetzt, wird es regnen – denn vom Wasser, vom Regen hängt ja nicht nur hier alles Leben ab.


Der berühmte Königsweg vor den Mauern von Angkor Thom, nach dem André Malraux (ein früherer französischer Kulturminister, Romancier und verurteilter Angkor-Antiquitätendieb) eine Novelle benannt hat, wird gesäumt von Göttern und Dämonen, die um die Wette an einem schuppigen Schlangenleib ziehen, dass ihnen vor Anstrengung die Augen aus dem Kopf quellen: Sie quirlen den Milchsee, aus dem sie das Elexier des ewigen Lebens gewinnen wollen. Die Szene ist vielfach auch in Phnom Penh kopiert, als Deko an den Villen der Reichen und als Promenadengeländer am Tonlé Sap-Fluss. Und in jedem Wat finden sich die Buddhas, die vor Sonne und Regen geschützt unter den sieben Häuptern der sehr mächtigen Naga Vasuki meditieren.


Ich habe noch keine einzige Schlange und naturgemäß auch keinen Wasserdrachen gesehen, aber die Ebenbilder sind in mehr oder weniger abstrakter Form im heutigen Kambodscha einfach nicht zu übersehen: als geschwungene Ausläufer der Palast- und Pagodendächer, auf dem Logo der Wochenzeitung „Phnom Penh Post“, aus Beton, Holz und Gips, als Schlüsselanhänger und Schulheftcover. Unser Spielcasino, das nur Ausländer besuchen dürfen, weil Glücksspiel für Kambodschaner gesetzlich verboten ist, wurde auch nach der Naga benannt. Und natürlich schmücken die mythischen Tiere den Bug der bunten Ruderboote, die sich hier einmal im Jahr zu einem groβen Wettstreit versammeln.


Phnom Penh feiert an und auf seinen Wassern, wenn sich zu Beginn der trockenen Jahreszeit der Novembervollmond im Mekong badet. Heuer erwartet die Stadtverwaltung am 23. November drei Millionen Besucher zum Wasserfest, von denen angeblich vier Millionen auch kommen. Viele Phnom Penhesen flüchten vor dem Ansturm dieser Invasion, die schlieβlich drei Tage währt, reichlich Müll hinterlässt und ungute Erinnerungen bei denen, die ihre Wertsachen nicht in die Unterwäsche eingenäht haben, und gewisse körperliche Befindlichkeiten bei anderen, die sich an geistigen Getränken und Garküchenköstlichkeiten übermäβig erfreuten. Wie es sich gehört, brutzelt die Sonne auf alles und jedes, so dass sich die vielen Strohhutverkäufer über gute Geschäfte freuen können und die Festbesucher in Windeseile einheitlich behütet sind.


Angemeldet zum Wettbewerb haben sich 432 Ruderboote mit mehr als 26.100 Ruderern. In Besetzungen zwischen 22 und 70 wird im Sitzen, wird im Stehen den Tonlé Sap-Fluss cirka einen Kilometer hinunter gerudert. Jeweils zwei Boote treten gegeneinander an, auf den schlammigen Wassern spiegeln sich ihre T-Shirts als rosa, rote, blaue, gelbe, grüne Tupfen. Am Ufer stehen und hocken die restlichen 3 ¾ Millionen, laufen auf und ab, knabbern an frisch gekochten Maiskolben und Bratfischen am Stil, an grünen Mangos mit Chilipulver und groβen Fladenbroten, schlürfen zuckersüβe Limonaden in ungesunden Farben und schwatzen sich eins mit Nachbarn und Unbekannten. Das Wasserfest ist ein Volksfest für ganz Kambodscha.


Über die festbegleitende Infrastruktur gibt es sogar offizielle Verlautbarungen. Die Stadtverwaltung stellt 200 Dixi-Toiletten zur Verfügung und schickt 3.400 Extra-Polizisten auf die Straβen. Die private Stadtreinigungsfirma Cintri beschäftigt zusätzlich Personal neben ihren regulären 420 MitarbeiterInnen – gemunkelt wird von 600! Cintri ist Phnom Penhs Müllbeseitigungsmonopolist mit der Lieblingsfarbe GRÜN. Alles ist GRÜN bei diesem Unternehmen, die Müllautos, die Mülltonnen, die Kleidung der Müllmänner und –frauen. Bei meinem Rundgang an der Uferpromenade begegnet mir ganz viel Cintri-Zusatz-Personal in noch völlig neuem und allzu steifem GRÜN, und es weiß nicht, was es tun soll. Also steht es noch eine Weile herum und lächelt schüchtern über seinen GRÜNEN Kittelkragen hinweg.


Am Sonntagabend vergibt der König die Preise an die Sieger der verschiedenen Kategorien. Das Ergebnis würde jedes Kinderherz erfreuen: 142 Boote kamen auf den ersten Platz, 133 auf den zweiten, 114 auf den dritten und 42 auf den vierten (das heisst, sie haben alle ihre Wettkämpfe verloren). Den König kann ich leider mal wieder nicht sehen, denn er und die vielen Exzellenzen und Ehrengäste werden von vielen übergewichtigen Herren in Uniform vor mir und allen anderen neugierigen Blicken flächendeckend geschützt. Aber ich kann das Feuerwerk genieβen und den Vollmond. Bei all der Festtagsfreude ist mir entgangen, dass fünf Ruderer aus Singapur und ein Kambodschaner ertranken, als ihre Boote kippten. In einer Zeitung wird das Komitee für Desaster-Management verantwortlich gemacht, weil keine Rettungsboote und keine Rettungsringe zur Hand waren. Der erste Vizepräsident des Komitees, der privat mit der Abfüllung von Mineralwasser ein Extra-Taschengeld verdienen will, streitet das selbstverständlich ab. Und man hätte es wissen müssen: Viele Wasserfest-Aktive können nicht schwimmen.


Wenn der Trubel mit den Ruderbooten vorbei ist und die Wellen des Tonlé Sap sich wieder geglättet haben, wenn man scharfe Augen und ein wenig Glück hat, dann kann man sie in den kambodschanischen Wassern spielen sehen: die ein-, drei-, fünf- oder siebenköpfigen Drachen, die Nagas genannt werden.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 23. Dezember 2007.


© Mimi Productions

Reisklöβchen für dünnhalsige Geister

Oktober 2007.


Reisklöβchen für dünnhalsige Geister.
Fünfzehn Tage Ahnengedenken.





Im Oktober hört es langsam auf mit den heftigen Regengüssen. Für die Klöster im buddhistischen Kambodscha bedeutet das: Die Mönche dürfen wieder nach drauβen, denn (theoretisch) müssen sie die Regenmonate in ihren Pagoden, die hier "Wat" heißen, verbringen und sich dem Studium der heiligen Schriften widmen, damit sie nicht versehentlich auf eines der vielen Tierlein treten, die sich an der Regenzeit ergötzen und vermehrt überall herumwandern. Mir sind allerdings regenschirmbewaffnete Mönche in den letzten Wochen zuhauf begegnet, die ihren Stubenarrest wohl nicht sehr ernst nahmen. Dafür ist den Gläubigen das Ende dieser Periode um so wichtiger: Es ist die Zeit von Pchum Ben, dem fünfzehntägigen Ahnengedenkfest, dem wichtigsten buddhistischen Fest in Kambodscha, das in diesem Jahr am 27. September begann und am 11. Oktober seinen feierlichen Höhepunkt fand. Dann füllen sich die Wats wie bei uns die Kirchen zur Christmette, doch haben die Kambodschaner für ihre Festlichkeit mehr Ausdauer. Das müssen sie auch, im eigenen Interesse: Wer sich nicht kümmert, dem droht Ungutes.


Meine Oma hatte auf ihrer Kommode vergilbte Fotos der Verwandtschaft zu stehen, und am Totensonntag stellte sie eine Kerze ins Fenster zum Andenken an ihren in Russland vermissten Sohn. Eine Zeit zum Gedenken der Verstorbenen ist urmenschlich und in allen Kulturen bekannt. Von der jeweiligen Mentalität hängt es ab, ob mehr geweint, mehr gelacht oder mehr gefeiert wird. In Mexiko zieht die Familie zu Todos Santos mit dem Picknick-Korb und dem Transistorradio auf den Friedhof, um rund um die Grabsteine eine lebendige Fiesta mit den Toten zu feiern; und das Qing Ming-Fest der Chinesen ist von Böllern und Schnaps begleitet wie jede ordentliche Hochzeit auch.


In Kambodscha ist es nicht so lustig, aber bunt, lebendig und unüberhörbar. Schon um 4 Uhr in der Früh, wenn es hier in Phnom Penh noch stockdunkel ist dank sparsamster Straßenbeleuchtung, ziehen die ersten Familien mit ihren Speisegaben und Räucherstäbchen in die Pagoden. Die Segnungen der Mönche werden über Lautsprecher übertragen und erreichen akustisch auch die, die den Weg in den Wat noch nicht gefunden haben. Ich gestehe gern, dass ich mich da noch einmal aufs andere Ohr gedreht habe und alles, was ich über die Morgenaktivitäten aufschreibe, nur aus zweiter Hand weiß. Aber meine Khmer-Lehrerin ist eine bewährt verlässliche Quelle, sie nimmt ihren Buddhismus ernst und praktiziert ihn mit Hingabe. Von ihr weiß ich also:


In die Pagode werden vormittags gekochter Reis und andere Speisen gebracht, gedacht für die Toten und geschenkt den Mönchen, die für die Verstorbenen heilige Sprüche in Pali, der für religiöse Zeremonien verwendeten Sprache indischen Ursprungs, rezitieren. Die Ahnen dürfen in den fünfzehn Tagen aus der Unterwelt zu Besuch in die Oberwelt zurückkehren, also einmal im Jahr, um sich von ihren Verwandten mit Essen versorgen zu lassen. Das Jemseits ist weit weg, die Versorgungslage dort offenbar nicht gut. Wenn die Vorfahren "schlechte Menschen" waren, müssen sie ihr Dasein als Geister in der Hölle ("Breat") fristen, mit dünnen Hälsen und aufgedunsenen Hungerbäuchen. Solche Breat brauchen spezielle Speisen: Klebereisbällchen mit schwarzem Sesam, und die müssen ihnen vor Sonnenaufgang dargeboten werden, weil Breat das Sonnenlicht nicht gut vertragen. Da die Lebenden nun nicht wissen, ob Oma, Opa, Onkel, Tante zu Breat geworden sind, packen vorsichtshalber alle in ihre Essenpakete fürs Jenseits Reisbällchen mit schwarzem Sesam. Denn nur die nicht zu Breat gewordenen Ahnen mögen auch Obst und die speziell für Pchum Ben hergestellten Kekse. Die Bezeichnung des Festes heißt übersetzt: "versammeln (pchum) mit in Portionen aufgeteiltem Reis (ben)".


Wenn die Ahnen nun in die Oberwelt gestiegen sind und ihre lebenden Verwandten ihnen nichts Leckeres gebracht haben, ist das für die Lebenden fatal: Sie werden von den hungrigen Geistern verflucht, mit jeglicher nur denkbaren Konsequenz. Das geht von vermasselten Geschäftsabschlüssen über schlechte Schulzeugnisse und hässliche Bräute bis hin zu plötzlichen Todesfällen; man mag sich das in den Einzelheiten lieber nicht genau ausmalen. Da die Vorfahren aber mit ihrer Flucherei vorsichtig sein müssen (schließlich bleibt alles in der Familie) und nicht so genau wissen, in welchem Wat sie gespeist werden sollen, steuern sie in den fünfzehn Tagen des Pchum Ben-Festes sieben verschiedene an (von den ca. 3.000, die es derzeit in Kambodscha gibt) – und das machen die Lebenden auch. Mindestens sieben Pagoden besucht meine Khmer-Lehrerin jedes Jahr. Die Chancen, dass sie auf ihre Ahnen trifft, sind gut: Denn es sind Pagoden in der Gegend, aus der ihre Familie stammt. Ganz nebenbei verschafft sich jede/r Pchum Ben-Teilnehmer/in auch Verdienste fürs Nachleben und bessere Wiedergeburtschancen. Wer den Rundgang nicht gleich schafft, bekommt an diesem 11. Oktober dafür einen Tag frei: Der letzte Tag des religiösen Festes ist offizieller Feiertag im Land.


In den mit bunten Fahnen geschmückten Wats segnen die Mönche nicht nur die Verstorbenen, sie erinnern auch die Lebenden an die Endlichkeit der menschlichen Existenz: "Alle Dinge sind flüchtig, sie entstehen und sie vergehen. Während sie sich entwickeln, befinden sie sich schon in der Auflösung. Es ist eine Segnung, wenn dieser ständige Prozess des Werdens und Vergehens endet. Man kommt ohne Einladung in diese Welt der Illusionen, man geht ohne Abschied. Warum soll man darüber trauern?" Die wenigstens Gläubigen verstehen Pali, so empfinden sie den eintönigen Singsang der Mönche als beruhigend und fühlen sich nicht bemüßigt, über dieses Religionskonzept nachzudenken, das mir wenig Hoffnung und Trost zu spenden scheint und das ich ähnlich schwer zugänglich finde wie Gedichte von Stefan George: "komm in den totgesagten park und schau – der schimmer ferner lächelnder gestade – der reinen wolken unverhofftes blau – erhellt die weiher und die bunten pfade".


Wenn ich schon dem morgendlichen Trommelruf der Pagode nicht gefolgt bin, so habe ich für einen Besuch zumindest in der Mittagspause Zeit gefunden, als das bunte Treiben auf dem Höhepunkt war. Denn die Mönche dürfen mit den Gläubigen – und den Ahnen, die man aber nicht so deutlich sehen kann – gemeinsam bis 12 Uhr essen. Danach fasten sie bis zum frühen Frühstück am nächsten Morgen, was nichts mit Pchum Ben zu tun hat, sondern eine der strengen Klosterregeln ist. In der Speisehalle der Mönche sieht es jetzt aus wie bei einem Festgelage. Auf farbenfrohen Strohmatten stehen Schälchen mit Reis, Teller mit Gemüseresten, Teetassen und Thermoskannen. Alt und Jung lagert dicht beieinander, isst mit den Fingern; Kinder spielen mit leeren Plastikflaschen und inspizieren, was von der Menüfolge übrig ist. Eine alte Frau lädt mich ein, Platz zu nehmen und mich an der Mahlzeit zu beteiligen. Es ist nett gemeint. Ich wandere vorbei an den bunt bemalten Betonwänden der Halle, auf denen ein sehr rosa Buddha an einem sehr grünen Bodhi-Baum sitzt, unter einem sehr blauen Himmel, umgeben von sehr steifen Jüngern, die sich alle zum Verwechseln ähnlich sehen. Gemeinsames Essen verbindet, und hier kommt nichts, na ja, fast nichts um. Ich beobachte zwei alte Frauen und einen Veteranen mit Holzbein, die hoch zufrieden mit ihren prall gefüllten Plastiktüten von dannen ziehen. So haben auch die lebenden Armen etwas von den Gaben, und für die Ahnen bleibt genug.


Die Klebereisbällchen werden den Breat gemeinsam mit Räucherstäbchen in adretten Häufchen dargeboten, auf den Stupas, die die Urnen mit der Asche der Verstorbenen bergen. Sie ziehen in der Mittagssonne bereits Fäden und locken hungrige Insekten an. Egal, wie man zu derartigen Ritualen stehen: Sicher ist, dass die Post-Konflikt-Gesellschaft Kambodschas durch solche gemeinsamen Festivitäten zusammenwachsen kann. Der Oberpatriarch des buddhistischen Ordens der Thommayut, der Ehrenwerte Tep Vong, sagte in einem Interview mit der Phnom Penh Post vom 15. Dezember 2006: "In dem Regime der 3 Jahre, 8 Monate und 20 Tage (eine hier allgemein verstandene Umschreibung für die Herrschaft der Roten Khmer) wurden 21.568 Mönche getötet, ein großer Verlust für den Geist und die Identität des kambodschanischen Volkes." Die geltende Landesverfassung erhebt den Buddhismus zur Staatsreligion. Fast alle Kambodschaner, die ich nach ihrem Glauben befragte, bezeichneten sich als Buddhisten. Die Vielfältigkeit und die Details ihrer Religion sind ihnen nicht so wichtig, sie gehen mit ihren Familien in die Pagode, wo auch die Nachbarn hingehen, sie geben den Mönchen und den Ahnen, und das allein zählt. Ob in diesem Zusammenarbeit eine Aktivität des Ministerpräsidenten sinnvoll und erfolgversprechend ist, wage ich zu beweifeln.


Die Tageszeitung Cambodia Daily berichtete darüber am 1. November 2007. "Ministerpräsident Hun Sen ernannte den Chef seiner Bodyguards zum Assistenten des Oberpatriarchen der buddhistischen Sekte der Mohanikay, des Ehrenwerten Bou Kry. Hing Bunheang, der bereits Assistent von Tep Vong ist, dem Oberpatriarchen der Thommayut, sagte, dass seine Ernennung helfen werde, beide buddhistischen Sekten zu vereinen. 'Das hilft der Religion.'" Nach allem, was bekannt ist, war Bodyguard Hing Bunheang vor seiner Assistentenzeit beruflich noch nie mit religiösen Angelegenheiten befasst. Die buddhistische Sekte der Mohanikay entstand Mitte des 19. Jahrhunderts aus Anlass einer Reform des Buddhismus, die von Thailand ausging. Bis heute disputieren Mönche des Thommayut- und des Mohanikay-Ordens über Auslegungen der Texte und Anwendung der Prinzipien und halten ihre Klöster getrennt. In Deutschland findet man sich nach fast 500 Jahren mit der Existenz eines in zwei Sekten gespaltenen Christentums ab, und die Kanzlerin entsendet zur Glaubensrettung keine Berater.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. November 2007.


© Mimi Productions

Der Hundebiss in der Provinzhauptstadt

September 2007.


Der Hundebiss in der Provinzhauptstadt.
Wochenenderfahrungen mit einem fundamentalen buddhistischen Prinzip.





“Man kann nicht zweimal in demselben Fluss steigen”. Wer hat das nicht schon einmal gehört. Der Kern der buddhistischen Lehre heißt Anicca und beschreibt die Unbeständigkeit der Existenz. Alles ist dem ständigen Prozess des Werdens und Vergehens unterworfen, ein Festhalten daher ein sinnloses Unterfangen. So liegt also ein unbeständiges Wochenende vor mir, das jedoch mit einem erfreulichen Verlängerungstag ausgestattet ist. Denn Montag, der 24. September, ist uns als “Constitution Day” freigegeben. Keiner meiner Kollegen ist auskunftsfähig über den Anlass zum Feiern, sei's drum. Ausgestattet mit einem Buddhismus-Schmöker für Anfänger aus meinem Lieblings-Second-Hand-Buchladen, einem Regenschirm zur Jahreszeit und viel guter Laune mache ich mich auf den Weg nach Kampot.


Kampot ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und liegt fünf Busstunden, ca. 180 km, von Phnom Penh entfernt. Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein trieben hier versprengte Rote Khmer-Einheiten ihr Unwesen, die 1994 drei Westler entführten und schließlich ermordeten. Aber das ist Geschichte. Inzwischen liegt Kampot mit seinen 35.000 Einwohnern und seinem leicht verstaubten Kolonial-Charme wieder ganz friedlich am Kampot-Fluss, romatisch eingebettet zwischen Reisfeldern, Königspalmen und Pfefferplantagen, in Sichtweite einer kleinen Hügelkette, und döst ein wenig vor sich hin. Genau richtig für ein Buddhismus-Lese-Wochenende, so stelle ich mir das vor. Dass der Anreisetag ins (Regen-) Wasser fällt, scheint mir undramatisch – denn auch Regengüsse sind der Endlichkeit unterworfen, selbst in der Regenzeit. Und siehe – am Sonnabend lacht die Kampot-Sonne, und die Stadt lädt ein zu einem mittäglichen Spaziergang. Alles friedlich.


Die meisten Knatter-Mopeds ruhen sich aus. Ein paar Unermüdliche kurven auf dem Fahrrad herum. Die Kinder schießen ihre Tore in Ermangelung von Bällen mit den Plastiklatschen. Ihre Eltern meditieren vor den Hauseingängen in Hängematten oder auf Holzbänken, und auf dem breiten Grünstreifen, der den Boulevard vor dem Markt teilt, bewegen sich klapprige Kühe sehr langsam.


Auch die Straßenköter haben Pause. Ich laufe also harmlos-nichtsahnend im Hier und Jetzt, entspannt und ziellos. Kambodschas Provinzhauptstädte sind dem 19. Jahrhundert näher als dem 21., jedenfalls noch. Allerdings gibt es auch hier diese in jüngster Zeit entstandenen Khmer-Barockpaläste mit wulstigen Dächern, ausladenden Treppenhäusern und pompösen Satellitenschüsseln, die sich unschön-neureich neben den alten Kolonialhäusern breit machen und durch hohe, stacheldrahtbewehrte Mauerwerke vor ihrer Umgebung beschützt werden.


Plötzlich schießen aus dem geöffneten Tor drei kleine Kläffer heraus. Ich sehe sie auf mich zukommen wie in Zeitlupe und mag es nicht fassen, als sich der schnellste von ihnen bereits in mein linkes Hosenbein verbeißt. Nicht nur wegen eines möglichen Regengusses, sondern auch wegen solcher Eventualitäten trage ich immer den Regenschirm, ein altmodisches Stockmodell, bei mir. Doch jetzt, im Moment der dringend gebotenen Anwendung, versage ich kläglich. Ich mache erst einmal sekundenlang nix. Schließlich habe ich es mit drei Viechern zu tun. Wenn ich die nun verdresche, werden sie bestimmt wütend und fressen mich in geballter Einigkeit einfach auf. Als aber das Hosenbein nachgibt und sich löchert und als ich mein eigenes Blut – jawohl, es fließt ein Tropfen! – sehe, haue ich doch drauf los. Hinter mir höre ich erstaunte englische Laute: Ein Tourist hinter mir beobachtet unser Treiben aus sicherer Entfernung und berichtet das Vorfallende über Handy seiner Ehefrau. "Bye bye, darling", flötet er dann in den Apparat und wendet sich mir leicht sorgenvoll zu. "Are you okay?" Ich denke mal schon. Ich bin ganz offensichtlich nicht blutüberströmt, und gegen Tollwut und Wundstarrkrampf wird die örtliche Apotheke etwas im Angebot haben. Die Köter sind wieder hinter ihrem Protzzaun verschwunden, und ich stehe unentschlossen mitten auf der Straße herum.


Mit reichen Leuten legt man sich in Kambodscha nicht an. Das gilt sicher auch für andere Länder, aber hier höre ich das dauernd. Deshalb beschwert sich niemand, wenn nächtens der Partylärm aus der Luxusvilla den Schlaf vertreibt oder der Riesenwagen davor stundenlang vor sich hinhupt. Leute mit Geld sind Leute mit Macht sind Leute mit Einfluss sind Leute mit Verbindungen und an sich und meistens und immer und überall: immun, unangreifbar, unverfolgbar, sicher. Da kann man nichts machen. “Sagt wer?” denke ich. Meine Tollwut-Prophylaxe wird mir ermöglichen, mit den Herrchen und Frauchen der bissigen Monster einen Rechtsstaat-Diskurs im Schnelldurchlauf zu veranstalten, bevor ich tot umfalle.


Vor dem barocken Tor steht ein großes Auto mit getönten Scheiben, der Motor läuft, und jemand traut sich nicht auszusteigen, als ich ans Fenster klopfe. “Do you speak English?” schalle ich gegen das schwarze Glas. Wahrscheinlich scheitere ich jetzt an der Sprache, weil sich alle unverständig-doof-unzuständig stellen werden – aber einen Versuch ist es wert. Auf meinen Regenschirm gestützt, von deutschem Gerechtigkeitssinn durchflutet, nur abgemildert durch die Kapitel 1-Buddhismus-Leseerfahrung, transformiere ich vom touristischen Hundebissopfer zu einer Lektorin über Schadensrecht für Erstsemester. Und dann läuft ein erstaunlicher Mechanismus ab. Ein Mopedfahrer (in Kambodscha ersetzen sie die Taxifahrer) rollt heran, weil er ein Geschäft wittert – und er kann englisch. Mit seiner Sprach-Unterstützung verlange ich, die “Verantwortlichen” zu sprechen. Die Autotür bleibt geschlossen. Hinter dem Gartentor tut sich Bewegung.


Dann rollt sie schließlich heraus, die Dame des Hauses – wenn ich mal so sagen darf –, und sie hat genau die Stimme, die ich so gar nicht abkann in dieser Sprache, sehr laut, sehr schrill, in der Tonlage ihren Hunden sehr ähnlich. Sie trägt einen rosafarbenen Hosenanzug, der offenbar in der letzten Wäsche erheblich eingelaufen ist. Es speckrollt sichtbar von den Schultern abwärts, und die prallen Waden sind gänzlich unbehost. Von Ersatz für meine kaputte Hose und Erstattung von Arztkosten will sie zunächst nichts wissen. (Ich würde mich auch mit einer Entschuldigung und einer Einladung zu einer Tasse Tee begnügt haben ...) Und natürlich wird sie mir ihren Namen nicht sagen, und eine Telefonnummer hat sie auch nicht. Ich zeige auf das Handy in ihrer Hand: Wie wäre es mit der Nummer? Ich würde nämlich gern mit “der Polizei” über “die wilden Hunde” reden. Jetzt wird sie richtig sauer. Ihr Mann – so lässt sie mich durch unseren Übersetzer wissen – sei ein “hochrangiger Polizeibeamter” in Phnom Penh! Lady, damit kann man mir keine Angst machen: Prima, kontere ich, ich arbeitete ja auch “für die Regierung” in Phnom Penh, da würde ich doch ihren Mann gern einmal kennen lernen. Das Geschrille geht noch etwas hin und her, und eigentlich bin ich nur noch dabei, weil ich keine Lust habe, mich um meine Bisswunde zu kümmern. Erstaunlicherweise sagt dann der Mopedfahrer: “Steig auf, wir fahren zum Arzt, sie zahlt alles.” Ich sehe mich plötzlich ins Reisfeld gekarrt und dort hinterrücks erschossen, von einem hochrangigen Polizeibeamten aus Phnom Penh. Aber statt dessen halten wir vor einer Apotheke.


Der müde, ältere Apotheker will mal in einem Krankenhaus gearbeitet haben. Er kramt aus seinem Kühlschrank eine kleine Ampulle heraus, die rundherum gut sichtbar, aber für mich unverständlich auf vietnamesisch beschriftet ist. “05-2007” steht da unter anderem, Preisfrage: Produktions- oder Verfallsdatum? Der Apotheker-Arzt guckt mich ausdruckslos an – ich solle mir doch in Phnom Penh eine Spritze geben lassen, oder am besten gleich sieben oder acht. Er wisse ja auch nichts, und einen Beipackzettel gebe es in Kambodscha nie – wir Ausländer hätten da völlig falsche Vorstellungen. Ich solle mich erst einmal ausschlafen – er zeigt auf eine Liege. Inzwischen ist noch ein Moped angekommen: Der hochrangige Polizeibeamte hat es tatsächlich in zehn Minuten von Phnom Penh bis hierher geschafft - und welch ein Wunder, in einer senffarbenen, frisch gebügelten Uniform. Er knurrt etwas im Hintergrund mit seiner Frau herum, dann übersetzt “mein” Motofahrer: letztes Angebot – 35 Dollar und ich könne mir einen Arzt meiner Wahl in Phnom Penh suchen! Ich zocke noch ein bisschen (das sei doch alles viel teurer in Phnom Penh – und die Hose ...), aber man darf den Bogen nicht überspannen. Lieber 35 Dollar als ein Tod im Reisfeld. Und so stehe ich mit drei Scheinen wieder auf der Straße und staune: 50.000 Riel sind ungefähr 12 Dollar, und davon habe ich jetzt drei, sogar echte und ganz neu mit Wasserzeichen und Metallstreifen drin! Der Motofahrer will jetzt natürlich von mir bezahlt werden, denn Madame ist mit ihrem hochrangigen Polizeibeamten längst davongefahren. ...


Unerwartet treffe ich beim Abendessen Entwicklungszusammenarbeits-kollegen (ja ja – wir leisten “Zusammenarbeit” in der Entwicklung, Hilfe ist out), die mich überzeugen, dass ich leichtsinniges Wesen doch wirklich eine Tollwut-Spritze bräuchte, und die mich sofort zu einem “richtigen” Arzt bringen. Der lässt mich auch den Waschzettel des Medikaments studieren (vietnamesisch und englisch). Dahin geht der erste 50.000-Riel-Schein – und als ich die Ampulle sehe mit der gleichen vietnamesischen Beschriftung wie die vor ein paar Stunden, bloß mit dem Aufdruck “2008”, da weiß ich, dass die Apotheker-Ampulle ein wenig überlagert war. Sie wartet jetzt wahrscheinlich auf einen armen Khmer, der sich ein Nachdenken über “Impfung ja-nein” nicht leisten kann. Meine Entwicklungszusammenarbeits-kollegen haben genau wie ich vorher noch keinen 50.000-Riel-Schein gesehen – und ich bin mächtig stolz, dass ich nach hiesigen Verhältnissen einen enormen Schadensersatz erhalten habe, denn kambodschanische Monatsgehälter um die 40 Dollar sind vergleichsweise hoch (für Wachleute und Haushälterinnen).


Anicca lacht und lässt es über Nacht mal wieder heftig regnen. Ich gehe zum Frühstück in die Sonne und blicke auf den Fluss, und der zieht träge vorbei, und der Himmel ist erst blau, und dann sind die Wolken zurück, das Frühstück ist wunderbar, und bald ist der Teller leer – und als ich das Lokal verlasse, ist das Portemonnaie weg und die beiden niegel-nagel-neuen Rielscheine und das restliche Kleingeld auch. Leider war im Portemonnaie auch der Wohnungsschlüssel. Aber als ich wieder daheim bin, lassen meine guten Hausgeister ihn erneut werden: Sie beschaffen mir Ersatz ganz unkompliziert, für einen Dollar. Und plötzlich ist meine gute Laune wieder da und “Constitution Day” bereits vergangen.


Nachtrag: Natürlich gehe ich am nächsten Morgen in Phnom Penh noch einmal zum Arzt, Kostenpunkt: 47 Dollar. Denn ich brauche eine zweite Tollwut-Spritze. Der Impfstoff, der mir in Kampot verabreicht worden ist, soll in Vietnam ab 2008 (!) vom Markt genommen werden, weil seit ein paar Monaten (!) ein Patient nach der Verabreichung des Mittels in Ho Chi Minh-Stadt paralysiert (!) im Krankenhaus liegt.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. September 2007.


© Mimi Productions

Amok und Nudelschrift

August 2007


Amok und Nudelschrift.
Essbares und Schriftliches.





Heute will ich von Amok berichten. Dabei ist Amok natürlich nicht gleich Amok, und im Übrigen hat mein Amok rein gar nichts mit dem Amok vom gleichnamigen Lauf zu tun. Den letzteren Begriff verdanken wir den Malaysiern, die mit "mengamuk" unkontrollierbare Wut bezeichnen. Ich dagegen bin ganz friedlich und denke einfach nur ans Essen und eine leckere Speise, deren Name "Amok" ausgesprochen wird.


Da mein Computer unwillig ist, "Amok" in der hiesigen wunderschönen Khmer-Schrift wiederzugeben, muss ich mich einer Umschrift befleissigen. Es gibt keine generell verbindliche. So haben Franzosen, Engländer und inzwischen auch Deutsche, ihrer eigenen Aussprache von lateinischen Buchstaben folgend, Aussprachehilfen für Khmer entwickelt, die ich zum Verständnis extra erlernen müsste. Denn so sehr französisch, englisch oder deutsch die auch sein mögen - mit der eigentlichen Sprache (Khmer) haben sie wenig zu tun. Da mir das Erlernen angesichts meiner beschränkten Aufenthaltsdauer in diesem Lande blödsinnig erscheint, halte ich mich lieber ans Original.


Eine schöne Schrift für ihre schwierige Sprache mit den wunderlichen Lauten haben die Khmer, ehrlich, aber in meinem Lehrbuch der 1. Klasse für kambodschanische Grundschüler habe ich mich seit Wochen auf den Seiten 1 und 2 verbarrikadiert. Dort werde ich zum Erlernen der Vokale (Seite 1) und der Konsonanten (Seite 2) des Khmer-ABC angehalten. Ich will das Schreiben erlernen, weil ich dann erfolgversprechend ein Wörterbuch konsultieren kann und irgendwann auch etwas zu sagen haben werde. Irgendwann. Meine Lehrerin ist mit einem vierjährigen Sohn gesegnet, den demnächst mit meinem Lehrbuch zu unterrichten sicherlich erfolgversprechender ist als die wöchentlichen Sitzungen mit mir. Doch noch gebe ich nicht auf. Ich nenne meine Herausforderung "Nudelschrift", weil sie mich an die Birkel-Teigwarenkreationen meiner Kindheit erinnert, an Spirali, Trulli & Co. Und sie gefällt mir, was die Beschäftigung mit ihr erleichtert, wenn auch nicht vereinfacht, etwas jedenfalls.


Wie soll ich nur die so hübsch gekringelten 23 Vokale auseinander halten, die sehr dekorativ, wenn auch nach strengen Regeln um die 33 Konsonanten drapiert werden. Manche stehen links, manche rechts, manche oben, manche zum Teil links und rechts (auch wenn sie einen Vokal und nicht zwei darstellen), manche zum Teil über dem Konsonanten und auch darunter, manche nur darunter. Ich teilte sie zunächst zum Auseinanderhalten (was mit der Aussprache nicht zusammenhängt) in zwei Hauptformen ein, die eher länglichen und die eher kullerigen. Gebracht hat mir die Einteilung nichts außer der Erkenntnis, dass Lernen mit Mühe und der Investition von viel Zeit verbunden ist und dass ich das alles allein und höchstpersönlich vollbringen muss. Aber ich habe mein Auge geschult und erfreue mich kindlich, wenn ich erkenne, dass der Doppelpunkt, der sich da an dem Friseurreklameschild über der Lockenpracht der Modellschönheit manifestiert, kein Doppelpunkt, sondern ein rechts stehender Vokal mit dem Lautwert "ass" ist. (Ja ja – ein Khmer-Vokal eben, da werden auch manchmal Laute angehängt, die wir als Konsonanten kennen.) Na bitte! Lesen kann ich das Wort damit jedoch noch nicht. Und völlig bedeutungslos ist es mir auch noch. Aber gelobet sei der Anfang.


Die Konsonanten lassen sich auch nicht lumpen. Wenn zwei aufeinander folgen, wird der zweite optisch verändert (er erhält eine kleinere und einfachere Figur, meistens jedenfalls) und unter den ersten Konsonanten als sogenannter "Fuß" gesetzt. Leider gibt es auch links stehende Füße, die ich gern mit Vokalen verwechsele. Die Tandemkonstellation der Konsonanten zu kennen, ist überaus hilfreich bei der Entzifferung von ganzen Sätzen – denn zwischen seine Wörter setzt der Kambodschaner keine Abstände, wasichjaauchschonbeichinesischenTextenübenkonnte, so dass alle Buchstaben – denn hier haben wir es mit einer Art Alphabet und keiner Silbenschrift zu tun – munter hintereinander aneinander geklebt geschrieben werden. Folgen zwei Konsonanten und behalten diese ihre "natürliche", unveränderte Gestalt, dann habe ich es vielleicht mit zwei Wörtern zu tun, oder – auch diese Erkenntnis macht Freude – es wird bei dem ersten Konsonanten der inhärente (nicht schriftlich dargestellte, aber sehr wohl die Ausprache bestimmende) Vokal ausgesprochen. Das mit den inhärenten Vokalen ist auch eine wunderbare Erfindung, die die Anzahl der zu schreibenden Konsonanten verdoppelt bei gleicher Menge an Vokalen, wobei jedoch letztere – je nach Zugehörigkeit der Konsonanten zu einer der beiden Register (das Register definiert die Konsonanten) – verschieden ausgesprochen werden. Habe ich jetzt alle LeserInnen verloren? Oder mögen wohl alle Tüftler und Computerspiel-Überdrüssige Khmer lernen? Es wäre schlicht gelogen, wenn ich sagen würde, das Erlernen dieser Sprache machte richtig Spaβ. Aber es stachelt meinen sportlichen Ergeiz an und lässt mich auch mehr Verständnis empfinden für meine total lesefaulen Rechnungsprüferkollegen. Einige davon "lesen" ihre muttersprachlichen Texte immer artig mit dem Finger unter den Buchstaben im Schneckentempo (lautlos bewegen sie die Lippen und runzeln dazu angestrengt die Stirn) und versichern mir, dass sie freiwillig nie – wirklich NIE - ein Buch anfassen würden. Khmer-Lesen ist eben kein reines Vergnügen.


Nach dieser Abschweifung wende ich mich nun wieder dem Amok zu, was auf Khmer schwer zu schreiben, wenn auch leichter auszusprechen ist – und eine wahre Köstlichkeit benennt! Es handelt sich nämlich um ein Fischgericht, das nicht jeden Tag auf den kambodschanischen Tisch kommt, also etwas für Festtage ist, und das mit etwas gutem Willen von allen, die dies lesen, nachgekocht werden kann. Das Rezept stammt von meiner Khmer-Lehrerin. Leider sind zwei Kräutlein, die zur Geschmacksverbesserung beitragen, in keinem Wörterbuch enthalten; ich habe es daher bei einem kulinarischen Annäherungswert belassen.


Amok für zwei Personen


Man bereite zunächst eine Currypaste zu:
• 2,5 cm einer Galangalwurzel (gibt es in jedem Asia-Laden, der frisches
Gemüse führt – die Wurzel wird oft mit frischem Ingwer verwechselt, sieht
aber dunkler aus)
• 1 Esslöffel fein geschnittenes Zitronengras (auch aus dem Asia-Laden)
• 1 Teelöffel geraspelte Limettenschale (zur Not tut es auch eine frische
Zitronenschale)
• 5 mittelgrosse rote (scharfe) Chilies, aufschneiden, die Samen entfernen,
die Schoten klein schneiden
• 1 Teelöffel Salz
Alle Zutaten in einem Mörser miteinander vermischen und zerstampfen, so dass sich daraus eine Paste formen lässt. Die Paste zur Seite stellen. (Sie hält sich lange im Kühlschrank und ist für viele leckere Currygerichte verwendbar.)


Für das Fischcurry (das ist Amok nämlich) braucht man:
• 1 Esslöffel der gerade hergestellten Currypaste
• ¼ kg frischen Fisch (möglichst Süßwasserfisch, vielleicht eine mittelgroße
Forelle, die ausgenommen ca. 250 g ergibt)
• 1 Esslöffel Fischsauce (aus dem Asia-Laden)
• 1 Teelöffel Zucker
• 1 großes Ei
• 3 Esslöffel Kokosnussmilch (aus der Dose, gibt es auch im Asia-Laden)
• Salz und Pfeffer zum Abschmecken


Man nehme den Fisch aus, filetiere ihn und schneide die Filets in ca. 2,5 cm lange Stückchen. Man gebe die Fischstückchen und die anderen Zutaten in eine mittelgroße Schüssel und knete alles miteinander zu einer Art Teig. Dieser Fischteig kann im Stück – nach Belieben in eine hübsche Form gebracht - am einfachsten in einem Dampfkörbchen aus Span (zum Herstellen von chinesischen Teigtaschen, auch vom Asia-Laden) über Wasserdampf gegart werden. Möglich ist auch das Garen im Wasserbad in einem kleinen Topf. Das geht schnell, je nach Größe des Fischteigs, ca. 10 bis 15 Minuten. Wer hat, darf dazu auch ein Bananenblatt benutzen und das Amok darin auch servieren. Ansonsten kann das fertige Curry auf einem großen Salatblatt angerichtet werden. Dazu gibt es weißen gekochten Reis.


Guten Appetit! "Lecker" heisst auf Khmer übrigens (nach meiner persönlichen Umschrift) "tschnjanj". Bitte nicht zu lange üben, das Essen wird sonst kalt!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 31. August 2007.


© Mimi Productions

Theaterferien

Juli 2007.


Theaterferien.
Die kambodschanische Thalia ist außer Dienst.





Nach einem halben Jahr in Phnom Penh kenne ich die Straßen besser und weiß, wo mir der Sturz in die Abgründe der Kanalisation droht und welche Ampeln mir nur zum Scherz ihr grünes Licht zeigen. Wenn ich ansonsten allseitig-umsichtig auf den Verkehr, streunende Hunde und mobile Garküchen achte, kann ich beim Spaziergang nachdenken. Was ist "good governance", was sollte das Land entwickeln im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (wie das jetzt heißt und an der ich teilhabe), und was wäre ganz einfach gut zu haben? Eine freie Presse, eine unabhängige Finanzkontrolle, ein modernes Theater ...


Am 12. November 1968 weiht Kambodscha sein Nationaltheater ein. Wie es sich für ein Königreich gehört, gibt es dem Bauwerk einen noblen Namen und benennt es nach dem Vater des damaligen Königs "Preah Suramarit National Theater". Mit dem Fluss Bassac in Sichtweite kommt aber bald eine weniger förmliche Bezeichnung, und so ist das Haus auch jetzt noch bekannt, als "Bassac Theater", obwohl es nur wenige Jahre tatsächlich als Theater genutzt wird. In der Rückschau werden die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts als "goldenes Zeitalter" Kambodschas betrachtet, in Vergleich zu dem, was schon kurz danach mit dem Putsch von 1970 kommt, mit dem Bürgerkrieg und den Roten Khmer. Ein goldenes Zeitalter jedenfalls für eine urbane, mittelständische Klasse, die sich westlich orientiert und die sich an der Veränderung des Stadtbildes erfreut. Der damals noch junge König Sihanouk hat kein Interesse an demokratischen Neuerungen (was kein Wunder ist in einem Land, das nie andere als autoriäre Strukturen gekannt hat), aber Vorstellungen über eine neue Architektur, modern und wegweisend.


Vann Molyvann ist sein Mann zur rechten Zeit. 1926 in der Provinz Kampot geboren, mit Rechts- und Architekturstudien in Phnom Penh und Paris, kann er nach seiner Rückkehr 1956 das neue Gesicht der Stadt gestalten, die bald ein Olympiastadion erhält, neue Universitätsgebäude, Villen für die Wohlhabenden, eine Ausstellungshalle. Und schließlich kommt auch das Theater. Es wird ein schöner Bau. Vann Molyvann lässt sich vom "organischen" Stil von Frank Lloyd Wright inspirieren, der seine offen gestalteten Häuser harmonisch in die Landschaft einfügte und mit seinen geometrischen Formen die deutschen Bauhäusler beeinflusste, und von Le Corbusier, dessen klare Linien und flexible Innengestaltung Vann Molyvann bewundert. Er versteht die Beziehung zwischen der Stadt und ihrem vielen Wasser und baut Leichtes und Lichtes, dem tropischen Klima angemessen. Das macht ihn so verschieden von den heutigen Stadtherren, die einfach Seen und Kanäle zuschütten lassen, weil der Verkauf von Bauland Geld bringt und die Folgen der monsunbedingten Überschwemmungen sie nicht interessieren. Und das macht ihn so verschieden von den neureichen Bauherren des 21. Jahrhunderts, die wahre Retro-Wunder fabrizieren, aus Pomp und Gips, mit korinthischen Säulen, Angkor-Zitaten und vergoldeten Lampen, mit hohen Mauerumsperrungen und Stacheldrahtrollen.


Das Theater ist konzipiert in Form eines Dreiecks, die Spitze wie ein Schiffsbug, mit dem Zuschauerraum an der breiten Seite. Die Dreiecksform findet sich überall, einzeln oder zusammensetzt zu langgezogenen Rechtecken wie die Fliesen in der Lobby im ersten Stock, die mit ihrem lebhaften Muster in Schwarz, Weiß und Rot den Kontrast bilden zu hellen Wänden. Die schmale Fensterfront zieht sich an den Seiten entlang wie ein gläsernes Band und gewährt Ausblick auf den nahen Fluss. Für die Belüftung sorgen Öffnungen in der Wand, die wie hinter Fischschuppen versteckt wirken, und vom Erdgeschoss her garantiert der V-förmige Teich Verdunstungskühle. Ich blicke von der freischwebenden Treppe hinab und erkenne einen klitzekleinen schwarzen Fisch, der wohl einzige dauerhafte Bewohner in dem ansonsten verlassenen Haus im Juli 2007. Das Gebäude hat die Zeit nach 1975 leerstehend überlebt, bis sich schließlich 1994 eine Renovierung ermöglichte. Ein Bauarbeiter vergaß, in der Mittagspause den Lötkolben auszustellen. Der Rest ist Geschichte: Der Zuschauerraum brannte völlig aus, das Dach darüber stürzte ein. Da der Bauunternehmer nicht versichert war und niemand für die Schadensbeseitigung aufkam, blieb das Theater fortan Ruine.


Durch eine Türöffnung ohne Tür trete ich hinaus in das, was einmal der Zuschauerraum war. Die roten Backsteinwände stehen noch, hier und da hat das Feuer schwarze Spuren hinterlassen. Die Stufen für die Stuhlreihen sind grün überwachsen, ein Baum von stattlicher Größe gewährt Schatten. An einer Mauer steht in krakeligen Buchstaben: "I want to be Successful in the future, learn whil you are young" (Rechtschreibfehler im Original). Ich finde Theaterruinen traurig und mag ihrem morbiden Charme nicht erliegen: Zur Zeit hat Kambodscha kein Nationaltheater, egal, was erzählt wird. Denn wie so oft in Kambodscha weiß niemand etwas Genaues, doch die Gerüchte kennen alle.


Das Gelände sei verkauft, berichtet der Vorsitzende der kambodschanischen Schauspielervereinigung der Tageszeitung "The Cambodia Daily", die diese Mitteilung am 16. Juni 2007 abdruckt: Die Schauspieler würden sich an den Premierminister wenden, der ihnen weiter ermöglichen solle, das zerstörte Theater als Übungsstätte zu nutzen. Dass der Premierminister direkt um Hilfe angegangen wird wie früher der König oder beide gemeinsam und zugleich oder beide nacheinander, ist Usus in Kambodscha. In einer autoritär strukturierten Gesellschaft zählt nicht die Zuständigkeit, sondern Status und Macht. Der neue König Sihamoni hat bereits öffentlich geäußert, man möge das "Bassac Theater" wieder aufbauen. Kurz darauf, am 27. März 2007, steht in der "International Harald Tribune" zu lesen, dass das Gelände an eine lokale Telekom-Gesellschaft verkauft worden sei, die das Theater für ein Konferenzzentrum und einen Sendeturm abreißen wolle.


Das neue Nationaltheater solle neben einem glitzy Nachtclub ("Spark Nightclub") entstehen, so der Untersekretär des Kulturministeriums, und natürlich sei das Gelände des "Bassac Theaters" nicht verkauft. "Wir verlegen das Theater nur an einen anderen Ort, weil wir uns schämen, so ein zerstörtes Gebäude weiterzubenutzen." Und der Staatssekretär ist gar nicht erst zu sprechen für die Presse. Damit die Gerüchte weiterleben können. Und es spielt keine Rolle, dass der Baumeister Vann Molyvann das Theater für restaurierbar hält.


Wie absurd! Wieder "aufgebaut" wurde dagegen weiter nördlich für 2,25 Millionen US$ eine Brücke, die über Sand führt, weil der entsprechende Kanal zugeschüttet worden ist. Die französische Steinbrücke, die bekannt war für ihre Brüstung in Form einer mehrköpfigen Schlange (Naga), wurde 1892 für 30.000 Piaster gebaut und in den 30er Jahren abgerissen, weil der Kanal, der die europäische Stadt im Norden von der chinesischen und der kambodschanischen Stadt im Süden trennte, nicht mehr gebraucht wurde. So ist also dieses Brückengeländer im Jahre 2007 wieder da – und viele wissen nicht, dass hier, unter dem Norodom Boulevard, einst Wasser floss, wo jetzt ein Grünstreifen entsteht.


Als ich im Mai um die Ruine des "Bassac Theaters" herumlaufe, treffe ich einen alten Mann. Er sitzt auf einem Schemel und bemalt ein langes Stück Holz mit Goldbronze, eine geschnitzte Naga mit nur einem Kopf, eine Theaterrequisite. Auf meine Frage erklärt er mir, dass seine Truppe nicht in Kambodscha auftreten werde, sondern in Malaysia. Sie würden hier nur üben und ihr Material lagern. In Phnom Penh habe niemand Interesse für ihre Kunst.


Bei meinem zweiten Spaziergang, Monate später, fällt mir beim Verlassen des Geländes der königsblaue Bauzaun auf. Noch im Mai war hier eine andere Umgrenzung, ein filigranes Gitter in Grau, das kaum auffiel. Der potentielle neue Eigentümer setzt offensichtlich mit seinem Blech andere und auffälligere Farbakzente. Aber noch ist das Tor unverschlossen, erstaunlicherweise. Noch steht hier kein Wachmann in dunkelblauer Uniform, der den Zutritt verwehrt. Noch weiß niemand hier wirklich, was mit dem Theaterschiff passieren wird, und ich kann hoffen, dass es erhalten bleibt, und ihm für den Notfall wünschen, dass es auf dem Bassac in sichere Gefilde segelt, beschützt von einem Rhinozeros und einer kambodschanischen Thalia. E la nave va.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 30. Juli 2007.


© Mimi Productions

Der Tag, als der Regen kam

Juni 2007.


Der Tag, als der Regen kam.
Überlegungen zur Wiederholung von Ewig-Gleichem.





Der Regen in den Tropen – ich muss vom Regen in den Tropen erzählen wie alle Westler vor mir, die plötzlich überrascht sind von den schwarzen Wolken, den Blitzen, dem Donner, den Wassermassen – das Weltende scheint nahe. Die Einheimischen bleiben gelassen, aber ich, die ich diese Breitengrade nur kurzfristig mein Zuhause nenne, ich zittere. Der Himmel so dräuend, die Blitze wie Lichtschwerter, der Donner wie im veritablen Theater, dann der unendlich schwere Regen, der wie ein Vorhang von den Wolken herabzuhängen scheint, der alles zu erschlagen, dann zu ertränken droht und der doch so sehnlichst-sehnlichst erwartet wird, von einer agrarischen Gesellschaft, die das Wissen um die Irrigationssysteme ihrer Vorfahren vergessen hat. Die Kinder zeigen dem Wasser ihre nackten Bäuche und quietschen voll Begeisterung.


Es ist Freitagabend, und ich stehe mit meinem Kollegen Reaksmey auf dem Balkon neben unserem Büro und schaue. Was als Gewitterregen begann, hat sich zu flächendeckender Überschwemmung von Straße, Bürgersteig und Parkplatz eingerichtet – die einen genießen das als kostenloses Schauspiel, die anderen kurven auf kleinen Mofas durch ihr amphibisches Vergnügen, die dritten knurren über die gewohnte Unannehmlichkeit. Was ist da eigentlich passiert? Ach, bloß das Übliche. Reaksmey lacht über meinen sorgenvollen Blick. Nein, nein, kein Grund zur Beunruhigung, in ein bis zwei Stunden ist der Wasserstand wieder auf NormalNull. Die Straßen stehen hier bei jedem heftigeren Regenguss in Sekundenschnelle unter Wasser, gleichbleibend seit Jahrzehnten. Es gehört zum Regenzeit-Alltag, dass die Schuhe nass werden (warum tragt ihr keine Plastiklatschen!), dass der Hof sich übergangsweise in einen Swimmingpool verwandelt (die Wäsche trocknet ja bei der hohen Luftfeuchtigkeit heute sowieso nicht mehr, egal wo sie hängt!) und dass es in der Küche oder in der guten Stube durchregnet (der Eimer, der seit Jahren an derselben Stelle steht, verhindert doch das Schlimmste!).


Die Stadtverwaltung von Phnom Penh ließ im Jahr 1994 mit französischer Hilfe eine Untersuchung anstellen, "Étude diagnostique du réseau d'assainissement de la ville de Phnom Penh" (Studie zur Sanierung der Kanalisation der Stadt Phnom Penh). Fotos zeigen die Stadt nach einem Sturm am 18. Mai 1994 unter Wasser. Bildunterschrift: "An vielen Stellen sind die Straßen bis zu einem Meter Höhe überflutet. Das Wasser kann wegen der mangelhaft unterhaltenen Kanalisation nicht abfließen. Das Leben geht weiter." Andere Aufnahmen zeigen die verstopften Gullies, die zugemüllten Abwasserrohre (in den großen Sammlern könnte normalerweise ein Mensch aufrecht stehen, wenn auch sicherlich ungern, was jetzt wegen des Gerümpels sowieso nicht funktioniert) und die offenen Kanäle (zwei davon ziehen sich durch die Innenstadt und sind im Umkreis von drei Querstraßen dem Gesottenen und Gebratenen, das nebenan bereitet wird, eindeutig geruchlich überlegen). Die Studie endet mit einer detaillierten Aufzählung der erforderlichen Bauarbeiten und später nötigen Unterhaltungsleistungen, für die der französische Staat eine Summe von sechs Millionen Francs bereitstellt. Ich blicke an einem Freitagabend im Jahr 2007 auf das Ergebnis von Bau und Unterhalt der phnompenhoisen Entwässerungssysteme: Nach einer Stunde meines Betrachtens hat sich am Wasserstand (cirka 30 Zentimeter über Straßenniveau) kaum etwas geändert, dafür scheint sich der Verkehr verdoppelt zu haben – offenbar ist unsere Straße die am besten passierbare ...


Reaksmey und ich sind nicht die einzigen, die gucken: Als ich schließlich mit den Schuhen in der Hand und hochgekrempelten Hosenbeinen einen mutigen Schritt in die braune Brühe vor dem Rechnungshofgebäude wage, werde ich dabei von zehn Kollegen vom Eingang aus beobachtet. Die wären normalerweise schon lange ins Wochenende entflohen, aber jetzt kommen sie nicht an ihre Autos: Zum Wassertreten haben sie keine Lust. Sophan erklärt mir zum Abschied, dass es wohl noch zwei Stunden dauern werde, bis er heimfahren könne. Ich staune: zwei Stunden ... und alle betrachten sie die Wasserstrudel und hören, wie es gurgelt. Einfach so. Keiner liest Zeitung, keiner kehrt zurück ins Büro, da warten sie - wie immer. Die Regenzeit hat begonnen.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 19. Juni 2007.


© Mimi Productions

Mai-Feste

Mai 2007.


Mai-Feste.
Ich gucke auf den Fluss, der König lässt pflügen, und das Volk feiert seinen Geburtstag.





Im letzten Jahr beging der Verein der Ausländischen Presse in Deutschland festlich seinen 100. Gründungstag. Mehr als 400 Journalisten aus 60 Ländern sind inzwischen Mitglied und prägen das Bild, das man sich in ihrer Heimat von Deutschland macht. Die frisch gewählte Vorsitzende, Rozalia Romaniec, arbeitet für die polnische Redaktion der Deutschen Welle, und die Deutsche Welle kann ich in meinem kleinen Apartment in der „Villa Pasteur“ auch empfangen – als einen der 60 potentiell ins Kabel gespeisten Sender, von denen aber 50 nicht über verschleierte Ansichten und bunte Schrägstriche hinauskommen. Der freundlichen Hausverwalterin trage ich regelmäßig meinen Wunsch nach mehr Medienklarheit vor: Ja, ja, bekomme ich zur Antwort, es werde sich jemand kümmern, schon bald. Dabei würde ich doch nur zu gern noch heute meinen geliebten chinesischen Konkubinen-Intrigen-Lanzenkampf-Gongfu-Serien, die hier gleich auf mehreren Kanälen zu bewundern sind, ohne Sehstörungen folgen wollen ...


Während ich mir diese Gedanken über meine persönliche Medien-Situation mache, genieße ich einen Mai-Feiertag und habe mal wieder frei. Ich sitze auf einem der schönsten Plätzchen in Phnom Penh und schlürfe ein kühles Getränk, wenn auch leider keine Mai-Bowle: Ich bin beim „Foreign Correspondents' Club“ auf der erst kürzlich ausgebauten Dachterrasse und blicke auf den Fluss Tonlé Sap hinab, der noch in Sichtnähe in den Mekong fließt. Wenn ich länger auf das träge dahinziehende braune Wasser gucke, fallen mir all die wunderlichen Geschichten ein, die mir über diesen Ort erzählt worden sind und die so gar nicht stimmen. Zum Beispiel: von wegen Auslandspresse! Der „Foreign Correspondents' Club“ in Phnom Penh ist nämlich keine Journalistenvereinigung, und hier - mit Blick zum Mekong, dem Fluss der Flüsse in Südostasien, der sich von Tibet durch das südchinesische Yunnan über Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha bis in sein vietnamesisches Delta hinabarbeitet - hat sich auch nie eine Gruppe aufgeregter Kriegsberichterstatter getroffen, um über den kambodschanischen Bürgerkrieg oder die Kämpfe in Vietnam zu diskutieren, obwohl man immer daran erinnert wird: Im Treppenhaus hängen Fotos aus der Zeit. Der „Foreign Correspondents' Club“ in Phnom Penh – auch "FCC" oder bloß "F" genannt – ist einfach nur ein Restaurant, das 1993 in einem kolonialen Eckhaus am Sisowath Quai eingerichtet worden ist, mit Luft von vielen Seiten, großen Deckenventilatoren, riesigen Ledersesseln und einer enormen Getränkeauswahl, so dass die Vermutung, hier habe es bei viel Alkohol und dickem Zigarettenqualm hitzige politische Debatten gegeben, nicht völlig abwegig erscheint. Ich als kundige Phnom-Penh-Fußgängerin weiss jedoch, dass das Journalistenvolk in den 60er und 70er Jahren im Hotel "Le Royal" anzutreffen war, in der Nähe vom Bahnhof, in einem riesigen Bau von 1929, den die Roten Khmer 1975 bis 1979 angeblich als Lager für ihren Stockfisch benutzten, bis sich die Raffles-Luxushotelgruppe erbarmte und "Das Königliche" 1997 für eine andere Kundschaft in Betrieb nahm, die der gelbgestrichenen kolonialen Pracht eine angemessenere Wertschätzung entgegenbringt.


Nicht nur die Touristen sind dabei, sondern vor allem auch die Einwohner von Phnom Penh, als es heisst: „Heraus, heraus zum 5. Mai!“ Auf der großen Freifläche zwischen Königspalast und Nationalmuseum findet an diesem Tag das königliche Pflügen statt, an dessen Ende die Hofwahrsager dem geneigten Publikum hier und daheim am Fernsehschirm (letzteres ist witterungsbedingt die Mehrheit) mitteilen werden, ob’s ein gutes Jahr für die Landwirtschaft und ein friedliches für die Nation werden wird. Wer gedacht hat, er könne den aktuellen König, Norodom Sihamoni den Ersten, daselbst hinter dem Pflug einherschreiten sehen in goldenem Ornat und fast-rembrandtschen Helm über den Ohren, wird bitter enttäuscht. Denn was der Kaiser zu Beginn der Feldbestellungszeit im alten China hat höchstpersönlich machen müssen, dafür darf sich der kambodschanische König einen Prinzen bestellen. So hat es heuer fürs Ritual den Prinzen Norodom Singharat und seine Gattin erwischt. Dabei ist eigentlich völlig schnurz, wer da pflügt: Denn hier bestimmen die Ochsen, wie das Jahr wird. Aber der Reihe nach.


Ich kämpfe am Rand des Feldes für die Pflügeaktion um meinen Stehplatz. Dabei bin ich früh gekommen, es ist erst kurz nach 8 Uhr, und ich bin schon leicht apathisch hinter meinen schweißverklebten Brillengläsern und in der bereits wässerigen Ober- und eben solcher Unterbekleidung. So kann ich die kleinen Drängler und die größeren Vorbeischieber nicht abwehren, bis sie alle an mir wie an der goldenen Gans kleben, denn weiter nach vorn schieben wir uns nicht: Das Feld ist abgesperrt. Es hat etwas Schulhofmäßiges und erinnert mich an die nachmittäglichen Grundschul-Sportstunden mit 50-Meterlauf und Völkerball, allerdings mit viel mehr Theaterkostüm und weit über der Hitzefrei-Marke. Die Prozession ist schon im Gange mit drei Ochsengespannen zu jeweils zwei Ochsen, die Hörner mit rote Mützchen verziert und die Rücken in goldener Seide verhüllt, und diversem Personal, in märchenhafter Verkleidung hinterherschreitend. Wie im Märchenspiel ist der Pflug eine Attrappe, die nur Schleifspuren im Erdreich hinterlässt. Doch möchte ich mit dem Pflügeprinzen nicht tauschen. Wenn schon das einfache Stillstehen in leichter Sommermontur eine schweisstreibende Prozedur ist ... Hinter den Ochsen und dem Pflug und dem Prinzengemahl läuft die prinzliche Ehefrau, die so tut, als würde sie aus ihrer goldenen Schale ein bisschen aussäen, vorrangig und allzu deutlich sichtbar aber damit beschäftigt ist, ihre goldenen Slipper nicht im Sand zu verlieren, der zwar ungepflügt, aber von den vielen Ochsenrunden zur Pantoffelunpassierbarkeit verwandelt worden ist. Sie hat sicher Stunden beim Friseur für die 60er Jahre-Turmbau-Frisur zugebracht – und jetzt muss sie einfach nur Haltung bewahren, das Staatsfernsehen sieht alles.


Dagegen latschen die Hofwahrsager einfach nur hinter dem Pflug her, die Bäuche in den losen Tüchern nur mühevoll versteckt, wohl eher genervt als geehrt durch diese Prozedur. Und sie sind – egal, was meine Khmerlehrerin mir erzählt – keine buddhistischen Mönche. Indischer kann man nicht einmal in Indien aussehen in weißem Gewand über der Leibesfülle und das spärliche Haupthaar zu einem hübschen Dutt aufgesteckt. In Angkor zieren ihre Berufsvorfahren, in Stein geschlagen, viele Wände der Tempel, die Shiva, Brahma oder Vishnu gewidmet waren, bevor das Land sich endgültig – aber wohl nicht hundertprozentig – dem Buddhismus zuwandte. Indisches hat gut in Kambodscha überlebt, angefangen von den zierlichen weißen Kühen (die hier allerdings vor dem Metzger nicht sicher sind) bis hin zu den heiligen Sprachen Pali und Sanskrit, in denen auch heute noch die buddhistischen Mönche zu lesen und zu schreiben ausgebildet werden. Lesen muss heute niemand. Es ist Aufgabe der Hofwahrsager, sich einen Reim auf das zu machen, was die Ochsen ihnen vorgefuttert haben: Denn die bestimmen die Zukunft durch die Wahl der Speisen und Getränke, die man ihnen nach der Pflügezeremonie vorsetzt.


Bis zur Ochsenfütterung und Wahrsagerei halte ich es vor Ort nicht mehr aus. In Abwandlung des ach so wahren Liedes über die englische Kolonialignoranz, des berühmten „Mad Dogs and Englishmen“, aktualisiere ich den Refrain zu „Mad dogs and German girls go out in the midday sun“ (obwohl es noch nicht einmal 10 Uhr ist) und erlaube mir, bevor mich Hitzschlag und/oder Wahnsinn dahinraffen, die Flucht zu einem Eiskaffee. Ich lese das Verdikt der Wahrsager am nächsten Tag in den „Asia Pacific News“: „Zwei schokoladenbraune Ochsen durften von sieben Schüsseln wählen – Gras, Wasser, Wein, Mais, Reis, Bohnen und Sesam standen zur Verfügung. Einer verweigerte alles, der andere fraß 45 % der Maisration, bevor auch er den Schüsseln den Rücken zudrehte.“ Selbst ein Wahrsage-Laie wie ich erkennt darin ein schlechtes Omen, und so soll das Bauernjahr nun werden: Maisbauern werden eine durchschnittliche Ernte erwarten können, allerdings sieht es für den Reis nicht gut aus – an Regen wird es mangeln, das ist schlecht für den kambodschanischen Nassreisanbau. Hätten die Ochsen bloß etwas getrunken ... Doch nicht den Wein – denn wenn die Ochsen sich besaufen, dann gibt es Krieg! Dass es den nicht geben wird, ist mal wieder ein Grund zum Feiern.


Und schon am 14. Mai geht es weiter mit den Festen. Da gibt der König seinen Untertanen zu seinem 54. Geburtstag drei Tage frei. Wie – sagt ihr – den ganzen April im Neujahrsrausch verbringen und im Mai nicht feste arbeiten? Aber was wollt ihr eigentlich – mit Himmelfahrt und Pfingsten ist auch euer Mai ein Wonnemonat, ohne dass ihr einen König habt und ohne dass ihr einen Pflug auch nur von weitem seht.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 21. Mai 2007.


© Mimi Productions

Happy New Year!

April 2007.


Happy New Year!
Vom unschätzbaren Glück, den Beginn eines neuen Jahres innerhalb von vier Monaten mehrmals feiern zu können.





Der April beginnt hier nicht mit Scherzen, sondern mit einem Blick aufs Thermometer: Stetig, mit täglichen Erhöhungen, steigt die Temperatur über die Dreißiggradmarke. Am Monatsende wird sie sich bei vierzig eingerichtet haben, und danach kommt endlich der erfrischende Regen.


Aber es ist nicht die Hitze, die meine Kursteilnehmer glasig gucken lässt und sie in eine Dauer-Lächel-Starre (bei zeitweisem Absinken des Kopfes auf Brusthöhe und ausgedehntem Gähnverhalten des gesamten Körpers) versetzt. I wo, die kamboschanischen Rechnungsprüferkollegen sind einfach nur müde. Das Neujahrsfest der Khmer-Nation kündigt sich mit vielfältiger Feierei an, und nur ein ahnungsloser ausländischer Berater wie ich kann so vermessen sein, in der 2. Aprilwoche effizient und effektiv arbeiten zu wollen.


Als sich am Donnerstagvormittag das Gebäude geleert hat, um sich am späten Nachmittag wieder zu füllen mit lauter Damen in den besten weißen Blusen (viel Spitze, noch mehr Perlenstickerei) und Herren in frisch gebügelten weißen Hemden, bleibt es auch mir nicht verborgen: Eine Feierstunde steht an – und ich bin mal wieder zu bunt angezogen ...


Auf der Tribüne in unserer Aula sitzen vier Mönche auf dem Perserteppich und gucken zwischen Blumenarrangements entrückt-desinteressiert zu uns herab. Zunächst einmal haben sie nichts zu tun, weil die ersten Gebete von einem Laienbruder gesprochen werden, der in ehrfürchtiger Haltung rechts vor ihnen kniet. Da ein Laie eben kein Mönch ist, trägt der freundliche alte Herr ein weißes Hemd. Die orangefarbene Kutte und der pflegeleichte Totalhaarschnitt sind seinen Begleitern vorbehalten, die sich schon bald mittels schnurlosem Mikrofon dem Neujahrsglückwunsch-Singsang anschließen. Aber dies wäre nicht Kambodscha ohne huld- und segensvolle Bewässerung zum Schluss: Mit einem Palmenwedel und mehr oder weniger wohldosiert besprüht uns der älteste Mönch mit dem nicht immer willkommenen Nass aus einer Bronzeschale (Wimperntusche – aufgepasst!), während die anderen Mönche Jasminknospen auf uns herabregnen lassen, auf dass es ein gutes Khmer-Jahr werde. So kann ich in Kambodscha zum dritten Mal gut vorbereitet in ein neues Jahr rutschen. Allerdings muss ich zum punktgenauen Rutschen noch bis Sonnabend (14. April, 12.48 Uhr) warten.


Der exakte Beginn des Khmer-Jahres lässt sich astronomisch berechnen und findet regelmäßig um den 13. April herum statt, wenn die Sonne in das Sternbild des Widders eintritt (genauer: wenn Erde, Sonne und der Stern Chitra in diesem Sternbild auf einer Linie stehen – habe ich gelesen, denn meinen Khmer-Bekannten fehlt dafür die Neugier). Für die Khmer ist das der Zeitpunkt, in dem ein neuer Gott die Herrschaft übernimmt und damit ein neuer Zeitabschnitt, also ein neues Jahr, beginnt. Wie das funktioniert, habe ich auch recherchiert und werde es an anderer Stelle erzählen. Jedenfalls zeigt sich wieder einmal die wunderbare Toleranz des Buddhismus, denn seine Mönche haben keinerlei Problem, einer jährlich wechselnden nicht-buddhistischen Gottheit die Segnungen ihres Meisters zu übermitteln. Und die Khmer-Zeitrechnung richtet sich trotzdem nach Buddhas Geburtstag: Wir schreiben heuer das Jahr 2551.


Wie in China macht sich auch hier zum Neujahrsfest die ganze Nation auf die Beine, um in den Heimatdörfern mit den Verwandten die Feierei fortzusetzen, die schon am Arbeitsplatz (siehe oben) ihre Auswirkungen zeigte. Die Preise für Hotels und Taxis steigen kurzfristig heftig an, damit auch jeder etwas von den Festtagen hat, und die meisten Geschäfte machen ein paar Tage zu.


Relativ kurz dagegen wird das sog. Internationale Neujahr gefeiert. Ich bin kaum aus dem Flieger auf den Pochentong Airport geklettert, da ist das Jahr 2006 (eines von meinen ganz spannenden) schon fast beendet. Ich finde mich wieder unter den lichterkettengeschmückten, duftenden Frangipani-Bäumen in einem Gartenrestaurant mit dem passenden Namen „Elsewhere“ („Woanders“), um mich herum Menschen in leichter Sommerkleidung, und jemand zählt die letzten Sekunden des 31. Dezember. Es weht eine leichte Brise, über mir breitet der Himmel seine Sterne aus – und dann beginnt der 1. Januar 2007, Neujahr nach dem Gregorianischen Kalender. Diesen Kalender und unsere Zeitrechnung (die wir so gern für die einzige und einzig richtige halten) verdanken wir einem Dekret von Papst Gregor XIII vom 24. Februar 1582, der die zeitliche Konfusion um das Osterfest beenden will und außerdem präzise wie ein guter Gynäkologe – wenn auch mit dem großen Vorteil der Nachträglichkeit - den Geburtstag von Jesus, dem Christus, festsetzt. Im „Elsewhere“ ist mir noch nicht klar, dass mich sehr bald Kalender und Jahresanfänge heftig interessieren werden: In Kambodscha kann man einfach den vielen Neujahrsgelegenheiten nicht entgehen.


Als an den Geschäften der vielen Sino-Khmer und bei den China-Restaurants die Hundebilder gegen Schweinchenposter ausgetauscht werden und offene Lastwagen mit fröhlichen Jungs in Löwentanz-Kostümen durch die Stadt fahren, weiss ich: Gleich ist der 18. Februar und damit Frühlingsfest-Chinesisch-Neujahr. Den Kalender verdanken die Chinesen ihrem legendären Gelben Kaiser, der ihn in seinem 61. Regierungsjahr einführte, was nach unserer Zeitrechnung im Jahr 2637 v. Chr. stattfand. Wie man auf dieses Datum gekommen ist - da sich doch die Existenz eines legendären Kaisers so gut wie gar nicht verbürgen lässt, weder überhaupt noch historisch annähernd exakt -, weiß ich nun auch nicht. Jedenfalls behaupten die Chinesen ganz einfach, dass sie dem Gebot des Kaisers folgend ihr Neujahrsfest als Beginn des Frühlings am 1. Tag des Frühlingsneumondes zu feiern haben. Für eine kontinuierliche Jahreszählung hat das nicht gereicht, weil mit dem Regierungsantritt eines jeden neuen Kaisers das Jahr 1 begann. Erst nach dem Abdanken von Pu Yi übernahm China 1912 in Ermangelung eines neuen Kaisers die gregorianische Jahreszählung.


Dafür ist der Buddha höchstpersönlich zuständig für die Reihenfolge der tierischen Regentschaft über das chinesische Jahr. Die Erklärung geht wie folgt: Als er sein Ende nahen fühlte, lud er die Tiere ein, von ihm Abschied zu nehmen. Nur zwölf nahmen das Angebot wahr. In Anerkennung dafür benannte der Buddha die Jahre nach den Tieren in der Reihenfolge ihres Erscheinens: Ratte, Rind, Tiger, Hase, Drachen, Schlange, Pferd, Schaf, Affe, Hahn, Hund, Schwein. Und 2007 soll nun schweinisch gut werden: Das Schwein gilt als das von allen glücklichste Viech. Dass es auch über den Khmer-Kalender regiert (mit einer gewissen Unschärfe zwischen den beiden unterschiedlich gelagerten Neujahrsfesten – denn da war noch Khmer-Hundejahr, als längst schon Chinesen-Schweinejahr begonnen hatte), ist eine von den vielen wundersamen China-Einflüssen im Land der Khmer.


Wenn der Wind es will und der Mopedlärm es nicht verunmöglicht, höre ich von meiner Wohnung aus den Muezzin. Doch wo ist sein Arbeitsplatz? Bei einem Spaziergang zum Boeng Kak-See, der gerade viel in der Zeitung steht, weil er zugeschüttet werden soll und die Stadtverwaltung in Verdacht steht, sich mit einer undurchsichtigen Immobilienfirma zu noch undurchsichtigeren Bauspekulationen verbandelt zu haben, treffe ich auf eine Moschee mit riesiger goldener Kuppel. Die muslimische Gemeinde bekam das Land 1969 von König Sihanouk und baute darauf ihre „International Dubai Mosque“. Von den ca. 14 Millionen Kambodschanern gehören etwas über eine halbe Million der ethnischen Minderheit der Cham an, die keine Buddhisten, sondern Muslime sind. Und auch sie feiern Neujahr.


Im 6. Jahrhundert (unserer Zeitrechnung) entdeckt ein junger Mann aus Mekka, dass es gar nicht viele arabische Götter, sondern nur einen, Allah, gibt und dass er sein Prophet ist. Das ist der Klerikerkaste seiner Heimatstadt nicht geheuer, und so flieht Mohammed schließlich mit seinen Anhängern nach Medina, um ihren Anfeindungen zu entgehen. Wir nennen dieses Datum den 16. Juli 622 n. Chr. Für die Muslime beginnt mit dieser Flucht, als „Hijra“ (latinisiert „Hegira“) bezeichnet, der islamische Kalender, der sich mit „A.H.“ (für „Anno Hegirae“) von unserem „A.D.“ („Anno Domini“) unterscheidet. Da ich nicht aufgepasst habe auf den islamischen Kalender – bei all den anderen Jahresanfängen -, werde ich mir den 10. Januar 2008 vormerken: Das ist der 1. Muharram 1429 A.H. und das muslimische Neujahrsfest. Wer will nicht schon gern viermal Neujahr feiern – innerhalb von vier Monaten!


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 23. April 2007.


© Mimi Productions

Was wäre, wenn ...

März 2007.


Was wäre, wenn ... ich in Kambodscha geboren wäre.
Eine Geschichtsstunde aus Anlass meines Geburtstages.





Ich sitze im Bus, der mich von Siem Reap nach Phnom Penh zurückbringt. Die Nationalstraße Nr. 6 ist inzwischen eine gut befahrbare Landstraße, auf der ich nach einem Ausflug zu den Tempeln von Angkor nach Hause gebracht werde. Es war ein aufregendes Wochenende. Ich habe noch den Schrecken in den Gliedern, wie mich ein Gewitter mit krachenden Blitzen und unmittelbar nachfolgenden Donnerschlägen eine halbe Stunde in einer halbverfallenen Galerie des Tempels Ta Prohm festhält und wie sich die roten Staubwege vor meinen Augen in Schlammseen verwandeln. Ich fühle noch den Zauber, den das Gesichtchen der Steingottheit verbreitet, das die Wurzeln eines Riesenbaumes von ihrer Überwucherungsaktion auf den Tempelmauern ausnahmen und dem vor 800 Jahren ein jetzt namenloser Steinmetz das zeitlose Lächeln schenkte.


Die Fahrt für die cirka 300 Kilometer zur Hauptstadt dauert sechs Stunden. An mir vorbei ziehen endlos Holzhäuser auf Stelzen, dahinter ausgetrocknete Reisfelder, hier und da 20 Meter hohe Zuckerpalmen, hier und da entenhütende Kinder, Wasserbüffel, Zeburinder. Wenn ich in Kambodscha geboren wäre, würde ich das alles aus meiner Kindheit kennen. Mein Leben wäre geprägt vom Reisanbau-Zyklus Trockenzeit (November bis April) und Regenfall (Mai bis Oktober), wenn ich als Bauernkind auf dem Land groß geworden wäre, und von der Möglichkeit, eine mehr oder weniger gute Ausbildung zu bekommen, wenn meine Eltern in der Stadt gelebt hätten. Am Ende des 2. Weltkrieges besaß Kambodscha keine Universität und nur eine Oberschule.


Zu meiner Geburt 1952 sind die Franzosen noch/wieder Herren des Landes, nach einem kurzen Interregnum der Japaner 1942-1945. Kambodscha ist Teil von «Indochine», bestehend aus Vietnam, Kambodscha und Laos. Aber die Herrschaft der Franzosen, die mit einem Protektoratsvertrag mit König Norodom 1863 begann, ist längst heftig erschüttert. 1952 kontrollieren kommunistisch orientierte Guerillas mit Hilfe der vietnamesischen Freiheitskämpfer Vietminh 1/6 des kambodschanischen Staatsgebietes (siehe David Chandler, „A History of Cambodia“, 2. Aufl., 1996, S. 180). Unterschiedliche Fraktionen von Bewaffneten, die im Namen der Nation, des Königs, eines Generals oder auf eigene Rechnung operieren, werden das Land auch nach scheinbaren Befriedungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht zur Ruhe kommen lassen.


Am 9. November 1953, als ich mich an den ersten Worten wie „Wustersum“ (für Luftballon) und „Mimi“ (statt Helga) versuche, erklärt König Sihanouk für sein Land die Unabhängigkeit von Frankreich. Mit Stolz weist er immer wieder darauf hin, dass Vietnam die französische Kolonialherrschaft erst ein halbes Jahr später (mit dem Sieg über die französischen Truppen bei Dien Bien Phu) abschütteln kann. Im Mai 1954 beendet die Genfer Konferenz den französischen Traum vom Imperium in Südostasien endgültig.


Für Kambodscha beginnt eine wechselhafte Zeit. Das Land ändert nicht nur seine Verfasstheit und seine Verfassung in kurzen Abständen, sondern – für die Ausländer - auch seinen Namen. „Kambodscha“ und „Kampuchea“ sind auf kambodschanisch ein und dasselbe, es bezeichnet das Land der Kambodschaner, die sich selbst Khmer nennen. Die Bezeichnung „Kambodscha/Kampuchea“ wird nach einer Gelehrtenauffassung abgeleitet von „Kambuja“, das selbst kein Ausdruck der Khmer-Sprache ist, sondern aus dem Sanskrit stammt und für einen Stamm in Nord-Indien verwendet wurde (siehe Serge Thion, „Watching Cambodia. Ten Paths to Enter the Cambodian Triangle“, 1993, S. 236). „Kambu“ bedeutet nach dieser Meinung „Dieb“, denn der nordindische Stamm soll ein Piratenclan gewesen sein. Andere Ethymologen behaupten, „Kambu“ sei einfach nur ein männlicher Vorname, und ein gewisser Kambu habe das kambodschanische Reich in grauer Vorzeit gegründet (siehe „Lonely Planet – Cambodia“, 2005, S. 36). Sei es drum - die Kambodschaner benutzen ohnehin lieber eine andere Bezeichnung für ihre Heimat: „srok khmer“, „Land der Khmer“.


Diese politischen Systeme hätte ich also nach der Unabhängigkeit meines Khmer-Landes erlebt:
1953 – 1970 Königreich Kambodscha
1970 – 1975 Republik der Khmer
1975 – 1979 Demokratisches Kampuchea
1979 – 1989 Volksrepublik Kampuchea
1989 – 1993 Staat Kambodscha
ab 1993 Königreich Kambodscha


Sihanouk ist eine schillernde Figur, der seine Untertanen „Kinder“ nennt, aus dem Staatssäckel die Produktion von Filmen finanziert (mit sich in der Hauptrolle, natürlich als König), der einer kleinen kommunistischen Guerillatruppe, mit der er später paktieren und die er dann bekämpfen wird, den Spitznamen „Rote Khmer“ gibt, der mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai befreundet ist, der sich mit nordkoreanischen Leibgarden umgibt und der das Land regiert wie seinen Privathaushalt. Er hat Freude an politischen Entscheidungen, aber keine Freude an der Vorstellung, sein Land in einen modernen Rechtsstaat zu verwandeln. Und dennoch würde ich mich an meine kambodschanische Kindheit und Jugend in den 60er Jahren als ein goldenes Zeitalter erinnern, golden in Vergleich zu dem, was danach kommt. 1970 wird Sihanouk abgesetzt, von einem General, Lon Nol, dem er selbst zu diesem Posten verholfen hat.


In diesem Jahr wird das kleine Kambodscha endgültig in den Krieg hineingezogen, den seine östlichen Nachbarn, die beiden Vietnam gegeneinander und mit den USA bzw. gegen die USA führen. Am 30. April marschieren amerikanische und südvietnamensische Truppen ein: Der sog. Ho Chi Minh-Pfad, auf dem die Vietcong ihren Nachschub organisieren, führt zu über einem Drittel durch kambodschanisches Gelände. In der Folge entladen amerikanische B-52 ihre tödliche Fracht auch hier. Es wird vermutet, dass mehr als 250.000 kambodschanische Zivilisten dabei getötet werden. Die kambodschanische Regierung gewährt keinen Schutz, Hilfsmittel kommen vielfach nicht bei den Adressaten an, Korruption ist allgegenwärtig. Immer mehr Zivilisten und Soldaten fliehen, auch in die Wälder, viele zu den Kämpfern der Roten Khmer. Sihanouk, inzwischen im chinesischen Exil, fordert seine „Kinder“ über Radio Beijing dazu auf. Wer kann, geht weg aus Kambodscha. Lon Nol befragt für seine Regierungsgeschäfte Wahrsager und Sterndeuter, seine Soldaten sollen sich mit buddhistischen Amuletten vor gegnerischen Kugeln schützen, denn ihre Ausrüstung vertickern die Offiziere auf dem schwarzen Markt (siehe Haing Ngor, „Survival in the Killing Fields“, 1989, S. 48). Inzwischen sind die Seiten unklar, das Land befindet sich im Bürgerkrieg. Zwei Wochen vor dem Fall von Saigon hat sich Lon Nol bereits ins Ausland abgesetzt, die Roten Khmer stehen vor der Hauptstadt. Im April 1975 erhoffen sich viele von ihrem Einmarsch endlich Frieden, ein Ende des Mordens.


Was aus mir unter dem Regime der Roten Khmer geworden wäre, vermag ich mir nicht vorzustellen. Viele in meinem Alter gingen anfänglich als idealistische Teenager in den «maquis», den Untergrund, zu den Roten Khmer. Dann übernahmen sie die Macht. Bis heute zeigen sich die Spuren dieser Herrschaft überall, selbst dem Touristenblick: Wer seine Intellektuellen-Schicht ausrottet, wer Wissen und Bildung gleichsetzt mit Angst vor Folter und Ermordung, wer Familien in einem traditionell familienbetonten Land zerreißt, wer Tempel niederbrennt und Mönche erschlägt, der hindert Normalität und Entwicklung seines Landes in unvorstellbarer Weise für unabsehbare Zeit. Denn er zerstört die Seele des Volkes, das Vertrauen in die eigene Kraft, die Liebe zum Leben, die Hoffnung auf die Zukunft. Die Nachgeborenen wachsen zwar ohne entsprechende Erfahrungen heran; aber niemand weiß, in welcher Form die Elterngeneration das Erlebte und Erlittene weitergibt. Und an Fachkräften fehlt es noch überall. Bis heute ist in Kambodscha nur ein gebürtiger Kambodschaner als Röntgenassistent tätig. Er machte seine Ausbildung in Deutschland und ist im Rahmen deutscher Entwicklungshilfe zurückgekehrt, um Landsleute auszubilden: Kambodscha hat inzwischen zwar Röntgengeräte, aber keine Menschen, die sie zu bedienen wissen.


Wie schwer es ist mit dem Frieden und dem Wiederaufbau in Kambodscha, zeigen die beiden Jahrzehnte nach der Befreiung von den Roten Khmer. Am 7. Januar 1979 marschieren vietnamesische Truppen mit kambodschanischer Unterstützung in Phnom Penh ein. Dabei ist ein ehemaliger Kämpfer der Roten Khmer, mit dem ich in dieselbe Grundschulklasse hätte gehen können, denn er ist nur zwei Wochen jünger als ich (siehe Harish C. & Julie B. Mehta, „Hun Sen. Strongman of Cambodia“, 1999, Vorwort xxii und S. 74). Hun Sen wird zunächst Außenminister der neu gebildeten Regierung, dann Premierminister. Die Roten Khmer sind übrigens als Organisation offiziell bis 1996 im Land aktiv. 1989 packen die letzten vietnamesischen Regierungsberater ihre Koffer. Hun Sen ist jetzt Regierungschef im Staat Kambodscha.


Die Wahlen vom Mai 1993 werden von der UNO überwacht. Der Einsatz der UNTAC (UN Transitional Authority in Cambodia) ist der bis zum heutigen Tag teuerste und umstrittenste Job einer Blauhelmtruppe. Hun Sen schafft es mit seiner Partei CPP (Cambodian People's Party) nicht auf den ersten Platz. Der Posten des Premierministers, der eigentlich dem Wahlsieger Prinz Ranariddh gebührt, wird um des lieben Friedens willen „geteilt“. Für kurze Zeit ist Hun Sen zweiter Premierminister, ein erstaunlicher Vorgang, der aber nur bis 1997 anhält und auf kambodschanische Art mit Waffengewalt geregelt wird. Den Posten des Premierministers hat Hun Sen inzwischen wieder ganz allein für sich und so lieb gewonnen, dass er jüngst in der Tageszeitung „The Cambodia Daily“ verkündete, er wolle das Amt frühestens nach Vollendung des 90. Lebensjahres aufgeben. Da stört es auch nicht weiter, dass Kambodscha wieder Monarchie geworden ist. Der neue König, Sihamonie, ist ein Jahr jünger als ich, und aus verschiedenen Gründen hätten wir sicher nie miteinander gespielt. Aber wer weiss. Welcome to Cambodia.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. März 2007.


© Mimi Productions

Über den Dächern von Phnom Penh

Februar 2007.


Über den Dächern von Phnom Penh.
Ich lebe mich ein und teile.





Hurra, denke ich am 7. Februar. Eine Woche Verspätung zwar, aber die Bauarbeiten sind endlich abgeschlossen, der Lack auf den Dielen getrocknet und die pompösen rot-weissen Ledersessel vor dem Fernseher in Positur gestellt. Ich habe ein eigenes Heim, mit traumhaftem Blick auf die Stadt, die sich noch keine Wolkenkratzer leistet und für die ein sechsstöckiger Bau wie meiner im Sinne des Wortes ein “Hochhaus” ist. Dass die Mopeds an Schlaflosigkeit leiden und besonders gut von oben in ihrem Dauerbetrieb zu hören sind, dass die Stadt auch des Nachts voller krähender Hähne (!) und jaulender Hunde ist und dass Hochzeitsmusikanten für die mehrtägige Feierlichkeit in der Nebenstraße natürlich vor Sonnenaufgang proben müssen (präzise: um 4 Uhr und 30 Minuten), wird mir erst später auffallen. Da die Freude über das neue Zuhause alles überwiegt, baue ich es nicht zum “castle” um. Das rächt sich jetzt. Jedenfalls habe ich nun zahlreiche Mitbewohner, die weder Miete zahlen noch einkaufen gehen – statt dessen sitzen sie mit am Frühstückstisch und fallen mir dutzendweise in die Nudelsuppe. Meine deutschen Apfelkekse sind ihrer Gefräßigkeit bereits anheimgefallen. Die eiserne Reserve ist nun dahin, und ich werde ab sofort zur Dauer-Reis-und-Nudel-Esserin mutieren. Gegen letzteres habe ich ja nix. Aber dass ich meine Wohnung mit mehreren Armeen von chitinpanzergewappneten Mini-Monstern zu teilen habe, die es geschafft haben, mir keinen Krümelweit auszuweichen und trotz bester Ernährung durch deutschen Direktimport weiter feste in meine weissen Arme und Waden zwacken, finde ich denn doch ziemlich unerfreulich. Dabei wollte ich gerade ertesten, ob ich mich schon auf dem buddhistischen Pfad geradeaus bewegen kann. "Respektiere jedes Lebewesen." Ich glaube, ich komme auf diesen Pfad erst nach einem kleinen Exkurs über den Ameisenweg auf meinem Holzfußboden zurück.


Völlig unfreiwillig mache ich also regelmäßig den “Justin O. Schmidt-Test” und komme bisher immer wieder auf das gleiche Ergebnis, nämlich Nr. 2 auf seiner Skala. Die Erklärung zu diesem Vorgang geht wie folgt:


In Europa gibt es 180 Arten von Ameisen, in Asien 2.080. Von den 2.080 asiatischen Arten hat sich eine meine Wohnung als Siedlungsort und Wirkungskreis auserkoren. Dabei kann ich Ameisen – wie auch viele andere Insekten – so gar nicht leiden, jedenfalls nicht auf meiner Nasenspitze und nicht auf meiner Gabel. Es gibt nur eine einzige Ameise, die ich jemals prima fand, und die war nicht einmal eine echte: Woody Allen als Ameise Z im einzig wahren Insektenfilm (“Antz”, 1998). Z wuchs mir wegen ihrer nachvollziehbaren Neurotisierung in Folge mütterliche Vernachlässigung ans Herz. Wie traurig das aus ihrem Mund klingt: “Wenn man das mittlere Kind ist in einer Familie von fünf Millionen, bekommt man nie die Zuwendung, die man braucht.” Meine Ameisen bekommen jetzt alle Zuwendung, die sie brauchen, auch wenn die recht handfest ist und für mich ein schlechtes Karma anhäuft. Ich mag einfach nicht bekrabbelt und angeknabbert werden, noch dazu von intakten, kinderreichen Familienverbänden, wenn auch vielleicht nicht gleich von fünf Millionen. Und das bringt uns nun geradewegs zu Herrn Justin O. Schmidt.


Justin O. Schmidt ist Insektenforscher mit einer professionellen Leidenschaft, ganz und gar im Sinne des Wortes: Er ist auf Insektenbisse spezialisiert. So haben ihn nach eigenen Angaben fast alle Sorten von Bienen, Wespen und Ameisen gebissen. Er ließ es zu, für die Wissenschaft. Seine schmerzhaften Erfahrungen machte er aber auch für andere nutz- und nachfühlbar, indem er einen Schmerzindikator erfand, den “Schmidt Sting Pain Index”. 150 verschiedene Insektenarten sind von ihm nach Bissintensität und Schmerzempfindungen katalogisiert worden. Auf der Skala (die sich von schwach bis intensiv steigert) rangiert die Schweiß-Biene (“sweat bee”) unter Nr. 1. Justin O. Schmidt beschreibt den Biss als “leicht und fruchtig”, was mich eher an einen Wein aus dem Veneto erinnert. Weiter stellt er fest, der Biss erinnere ihn an “einen Funken, der ein einzelnes Haar auf dem Oberarm verbrennt”. Zur Sache geht es mit dem Biss der Pistolenkugel-Ameise (“bullet ant”, nomen est omen), der auf der Skala eine Nr. 4 erhält: “ein deutlicher, intensiver, klarer Schmerz, als würde man über brennende Kohlen mit einem 5 cm langen Nagel im Hacken laufen”. Wer will das schon ... Meine kleinen Biester geben mir reichlich Gelegenheit, ihre Bissleistung zu benoten. Bisher stufe ich sie zwischen Nr. 1 und Nr. 2 ein. Seit heute morgen teile ich mein Zuhause mit einem weiteren Gast, der sich vielleicht diätmäßig für Ameisenfleisch interessiert: Ein kleiner Gecko macht seine Erkundungsrunde über die Stuckdecke im Wohnzimmer.


Ameisengift soll aber auch seine guten Effekte haben, so sagt man jedenfalls. Und vielleicht bin ich dank dem Ameisengift angereicherten Blut so vergnügt bei meiner Arbeit. Mein erster Workshop lief nach meiner Einschätzung recht gut. “How To Ask Questions The Smart Way. Interviewing Techniques For Auditors” heißt er. Meine Workshop-Teilnehmer hatten es nicht so mit dem Fragen (aktive Mitarbeit ist hier unbeliebt), versicherten mir aber, dass sie viel gelernt zu haben glaubten und gern weiter an meinen Rechnungssprüfungsweiterbildungsveranstaltungen (ha – was für ein schönes deutsches Wort - und das ist genau das, was ich hier veranstalte, bloß auf englisch, wo es einfach “audit training” heißt) teilnehmen würden. Ich war sehr erfreut über die überwiegend positive Resonanz. Die Workshop-Teilnehmer füllten artig, anonym und sehr ausführlich ihre Bewertungsbögen aus. Allerdings wurde ich beim Durchschauen der Bögen doch etwas nachdenklich. Denn unter der Rubrik: “Welche Trainings würden Sie gern in der nächsten Zeit bei mir absolvieren?” hatten zwei geschrieben: “Ich möchte gern lernen, wie ich Fragen auf eine smarte Art und Weise stellen kann.”


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 21. Februar 2007.


© Mimi Productions