Eine behelmte Kokosnuss und eine Ruine der Hoffnung

September 2008.


Eine behelmte Kokosnuss und eine Ruine der Hoffnung.
Kunst ist eine Notwendigkeit.





Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Da hat Karl Valentin einfach Recht, und deshalb muss ich ihn mal wieder zitieren. Ich frage mich nämlich häufig, warum Phnom Penh davon so wenig hat, Kunst meine ich, und vielleicht ist das eine Antwort: weil die Arbeitskraft zu anderen Zwecken eingesetzt wird. So schütten sie gerade ihren größten See in der Stadt zu, den Boeung Kak (die kleineren sind schon weg), um 133 Hektar Bauland für Luxusbehausungen zu gewinnen, mit deren Entwicklung eine wenig bekannte, aber Verlautbarungen nach gut mit offiziellen Stellen vernetzte Firma beschäftigt ist. Die Verfüllung des Sees soll 16 Monate dauern, das ist ein großes Stück Arbeit. Ein eben so großes Stück Arbeit harrt derer, die am See ihre Behausungen verlieren. Da sie nicht Eigentümer von Grund und Boden sind, haben viele der 4.250 Familien ihre Holzhütten über das Wasser gebaut, auf Pfählen und nur über schwankende Holzstege zu erreichen. Ich war da bei Sonnenuntergang – es war ein schöner Anblick über dem See. Ich wagte auch einen Blick in die Hütten. Durch den Bretterboden ließ es sich auch auf den See gucken, zum Fischezählen.


Und doch gibt es auch hin und wieder Kunst zu sehen in der Stadt. Man erspare mir hier weitere theoretische Erläuterungen über das Wesen der Kunst an sich und im Besonderen und ob das neue Phnom Penh der aktuellen Umbauphase mit seinen Protzbauten, leer geräumten Grundstücken, lebendigen Märkten, Slumvierteln und Luxuskarossen nicht auch ein einziges Kunstwerk sei. Denn ich hatte gerade ein Vergnügen: Kunst satt ein ganzes Wochenende lang, und ich bin noch immer entzückt. Es gab Installationen, Collagen, Fotografien und Filmdokumentationen junger kambodschanischer Künstler zu betrachten, die keine Folklore reproduzierten - keine Zuckerpalmen über Reisfeld, keine vollbusigen Apsaras in Volkstanzpose und auch keine Elefanten bei der Bergbesteigung -, sondern die das kreierten, was Kunst als Notwendigkeit zum besseren Verständnis unserer Existenz ausmacht: Sie haben über ihren kambodschanischen Alltag nachgedacht, sie haben ihre eigenen Ideen entwickelt und uns ein Ergebnis präsentiert, das ohne Vorlagen aus dem Versandhauskatalog traditioneller Versatzstücke auskommt.


Leang Seckon ist 34 und studierte Kunst in Phnom Penh. Seine Installation heißt "Reflektion" und besteht aus zwei Teilen: Hinter einem von der Decke hängenden leeren Holzrahmen steht eine Figur, die eine als Uniform erkennbare Oberbekleidung trägt. Das eine Hosenbein ist hochgekrempelt und legt den Blick frei auf ein Holzbein, wie es viele Minenopfer in Kambodscha besitzen. Das Jackenvorderteil verzieren Abzeichen, Ketten und Medaillons der letzten 50 Jahre, also aus der Zeit der Unabhängigkeit Kambodschas von der französischen Kolonialherrschaft. Eine Kokosnuss, zum Totenschädel verfremdet und von einem Helm geschmückt, thront über der Jacke. Auf der anderen Seite des Rahmens liegen ein zerstörtes Motorrad und ein intaktes Fahrrad auf dem Boden. Der Künstler sagt in einem Zeitungsinterview: "(Die Installation) ... soll die Verwirrung zeigen: In langen Jahren von Krieg und Konflikt verloren die Menschen ihre Familie, sie verloren Teile ihrer Gliedmaßen wegen der Landminen, sie verloren ihre Seele. ... Sie sind verwirrt durch das politische Durcheinander der letzten Jahrzehnte. Sie denken nicht über die Zukunft nach, sie denken im Straßenverkehr nicht an mögliche Verletzungen, sie denken nur an das Hier und Jetzt." Leang Seckon befasst sich mit dem Chaos in den Köpfen der Menschen, das sich für ihn widerspiegelt in der Art und Weise, wie sie sich im Straßenverkehr bewegen: Da geht häufig alles durcheinander, Rechts- und Linksverkehr, rote Ampeln werden nicht beachtet, wie auch sonst das neue Verkehrsgesetz reine Makulatur bleibt (insbesondere die Geschwindigkeitsbegrenzungen). Für Leang Seckon ist das Verkehrsverhalten symptomatisch für den Umgang der Kambodschaner miteinander. Er sagt: "Zwar leben die Menschen Seite an Seite, aber sie haben keine gemeinsamen Überzeugungen." Anders als im wirklichen Leben überlebte das Fahrrad der Installation den fiktiven Zusammenstoß intakt.


Ganz in der Nähe der Ausstellung hat sich ein Franzose mit dem alten Phnom Penh beschäftigt. Georges Rousse, Architekt und Fotograf aus Paris, kam auf Einladung des Centre Culturel Français. Mit seiner Kunst verfremdet er Orte, die dem Abriss oder der Totalsanierung anheim gegeben sind, indem er sie umbaut, bemalt und fotografiert. Der normale Besucher seiner Ausstellungen sieht nur das Endprodukt der künstlerischen Auseinandersetzung: das Foto. Ich hatte die Freude, den fotografierten Ort selbst sehen zu können und der Illusion, die seine Fotos herstellen, auf die Spur zu kommen.


Seit ich in Phnom Penh wohne, fasziniert mich eine große Villa aus der Kolonialzeit, die an prominentem Ort, gleich gegenüber von Nationalmuseum und Königspalast, steht, märchenhaft-verwunschen und scheinbar unbewohnt immer mehr an Farbe verlierend, einst buttergelb und leuchtend, jetzt schwarz gezeichnet von Regenguss und Umweltschmutz, aber immer noch umgeben von mediterranem Charme. Letztens war zu erfahren, dass die Eigentümer des Restaurants "Foreign Correspondents Club" – die von ihrer Terrasse direkt auf dieses Haus gucken – auch einen Blick ins Portemonnaie wagten und dann spontan entschieden: "Wir kaufen es!" Es wird also erhalten werden, und aufwändige Umbaumaßnahmen stehen an. Das ist genau der Augenblick, auf den Georges Rousse gewartet hat: Bevor die Ruine verschwindet (und sich wieder in einen Schwan zurückverwandelt), macht er sich ans Werk, er bearbeitet, fotografiert – und geht.


Ich sah das Foto aus der Villa mit den schwarzen Buchstaben DREAM schon in der Zeitung. Es war die perfekte Abbildung einer morbiden Räumlichkeit, eines desolaten Ortes, einer verlassenen Behausung, die durch die Klarheit und Geradlinigkeit der Buchstaben zusammen gehalten und physisch gestärkt wirkt - die Buchstaben wie auf das Bild hinaufgedruckt. Jetzt aber, als ich in der Villa vor den pastellfarbenen Wänden stehe, sehe ich zunächst nur Fragmente der Lettern, die sich zu Einzelbuchstaben, dann zu einem Wort erst zusammensetzen, als ich auf der "richtigen" Stufe der schön geschwungenen Treppe davor stehe und mir den Hals verrenke: ja – so geht es – das D ist ein schlicht lesbares D, platt auf die Wand gemalt, ein D aus allen Blickrichtungen; aber das A ist zum Teil im nächsten Raum gemalt und erscheint vollständig erst durch die Türöffnung; das E erstreckt sich übers Eck; und das R wird auch erst zu dem, was es sein soll, wenn der Betrachter aus dem passenden Winkel guckt. Wie ich stehen bald viele Besucher auf der Treppe und üben sich in leichter Gymnastik. Zu spät fällt mir auf, welch wunderbare Dokumentationen dies ergibt: Der Ausstellungsbesucher wird selbst für kurze Zeit zur Installation, "auf der Suche nach dem vergehenden Wort – ein Traum". Ein junger Mann, der zum Management des "Foreign Correspondents Club" gehört, sagt mir, dass im nächsten Monat mit den Umbauarbeiten begonnen werden solle. Das freut mich einerseits – weil ich nun sicher sein kann, dass endlich mal wieder ein schöner alter Ort in Phnom Penh erhalten bleibt. Andererseits macht es mich auch traurig – bald gibt es die Buchstabenbemalung nur noch als Foto. Doch vielleicht wird durch ihr Verschwinden ein Traum war, ein Traum von Phnom Penh.


Kambodscha tut wenig für seine zeitgenössischen Künste. Es mag sein, dass die Pflege des historischen Weltkulturerbes von Angkor und (seit kurzem) Preah Vihear kaum weitere Aktivitäten zulässt. Aber es gibt eine Königliche Universität der Darstellenden Künste, die nach einem Tausch des wertvollen Innenstadtgeländes inzwischen an den Rand der Stadt verbannt ist, wo sie mangels regelmäßiger Strom- und Wasserversorgung kaum noch besucht wird. Das neue Theater wird nicht bespielt, weil das tropische Regengeprassel auf dem Dach menschliche Sprache und Musik übertönt und andere Mängel noch nicht behoben sind. Wie kommt es, dass die staatlichen Haushaltsmittel dafür so magelhaft verwendet erscheinen? Alas, ich werde das wohl kaum herausfinden dürfen in der mir noch verbleibenden Zeit und muss mich darauf beschränken, Orte in der Stadt zu genießen, wo sich für kurze Zeit die Künste traumwandlerisch bewegen können. Es gab eine Zeit Anfang der 1990er Jahre, als Kambodschas berühmtester Architekt, Vann Molyvann, als Staatsminister für Kultur und Bildende Künste in der Königlichen Regierung tätig war. Er hatte sie erkannt, die Notwendigkeit der Kunst für dieses Land. Bleibt die Verwirklichung dieser Erkenntnis - ein Traum?


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 23. September 2008.


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