Der Hundebiss in der Provinzhauptstadt

September 2007.


Der Hundebiss in der Provinzhauptstadt.
Wochenenderfahrungen mit einem fundamentalen buddhistischen Prinzip.





“Man kann nicht zweimal in demselben Fluss steigen”. Wer hat das nicht schon einmal gehört. Der Kern der buddhistischen Lehre heißt Anicca und beschreibt die Unbeständigkeit der Existenz. Alles ist dem ständigen Prozess des Werdens und Vergehens unterworfen, ein Festhalten daher ein sinnloses Unterfangen. So liegt also ein unbeständiges Wochenende vor mir, das jedoch mit einem erfreulichen Verlängerungstag ausgestattet ist. Denn Montag, der 24. September, ist uns als “Constitution Day” freigegeben. Keiner meiner Kollegen ist auskunftsfähig über den Anlass zum Feiern, sei's drum. Ausgestattet mit einem Buddhismus-Schmöker für Anfänger aus meinem Lieblings-Second-Hand-Buchladen, einem Regenschirm zur Jahreszeit und viel guter Laune mache ich mich auf den Weg nach Kampot.


Kampot ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und liegt fünf Busstunden, ca. 180 km, von Phnom Penh entfernt. Bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein trieben hier versprengte Rote Khmer-Einheiten ihr Unwesen, die 1994 drei Westler entführten und schließlich ermordeten. Aber das ist Geschichte. Inzwischen liegt Kampot mit seinen 35.000 Einwohnern und seinem leicht verstaubten Kolonial-Charme wieder ganz friedlich am Kampot-Fluss, romatisch eingebettet zwischen Reisfeldern, Königspalmen und Pfefferplantagen, in Sichtweite einer kleinen Hügelkette, und döst ein wenig vor sich hin. Genau richtig für ein Buddhismus-Lese-Wochenende, so stelle ich mir das vor. Dass der Anreisetag ins (Regen-) Wasser fällt, scheint mir undramatisch – denn auch Regengüsse sind der Endlichkeit unterworfen, selbst in der Regenzeit. Und siehe – am Sonnabend lacht die Kampot-Sonne, und die Stadt lädt ein zu einem mittäglichen Spaziergang. Alles friedlich.


Die meisten Knatter-Mopeds ruhen sich aus. Ein paar Unermüdliche kurven auf dem Fahrrad herum. Die Kinder schießen ihre Tore in Ermangelung von Bällen mit den Plastiklatschen. Ihre Eltern meditieren vor den Hauseingängen in Hängematten oder auf Holzbänken, und auf dem breiten Grünstreifen, der den Boulevard vor dem Markt teilt, bewegen sich klapprige Kühe sehr langsam.


Auch die Straßenköter haben Pause. Ich laufe also harmlos-nichtsahnend im Hier und Jetzt, entspannt und ziellos. Kambodschas Provinzhauptstädte sind dem 19. Jahrhundert näher als dem 21., jedenfalls noch. Allerdings gibt es auch hier diese in jüngster Zeit entstandenen Khmer-Barockpaläste mit wulstigen Dächern, ausladenden Treppenhäusern und pompösen Satellitenschüsseln, die sich unschön-neureich neben den alten Kolonialhäusern breit machen und durch hohe, stacheldrahtbewehrte Mauerwerke vor ihrer Umgebung beschützt werden.


Plötzlich schießen aus dem geöffneten Tor drei kleine Kläffer heraus. Ich sehe sie auf mich zukommen wie in Zeitlupe und mag es nicht fassen, als sich der schnellste von ihnen bereits in mein linkes Hosenbein verbeißt. Nicht nur wegen eines möglichen Regengusses, sondern auch wegen solcher Eventualitäten trage ich immer den Regenschirm, ein altmodisches Stockmodell, bei mir. Doch jetzt, im Moment der dringend gebotenen Anwendung, versage ich kläglich. Ich mache erst einmal sekundenlang nix. Schließlich habe ich es mit drei Viechern zu tun. Wenn ich die nun verdresche, werden sie bestimmt wütend und fressen mich in geballter Einigkeit einfach auf. Als aber das Hosenbein nachgibt und sich löchert und als ich mein eigenes Blut – jawohl, es fließt ein Tropfen! – sehe, haue ich doch drauf los. Hinter mir höre ich erstaunte englische Laute: Ein Tourist hinter mir beobachtet unser Treiben aus sicherer Entfernung und berichtet das Vorfallende über Handy seiner Ehefrau. "Bye bye, darling", flötet er dann in den Apparat und wendet sich mir leicht sorgenvoll zu. "Are you okay?" Ich denke mal schon. Ich bin ganz offensichtlich nicht blutüberströmt, und gegen Tollwut und Wundstarrkrampf wird die örtliche Apotheke etwas im Angebot haben. Die Köter sind wieder hinter ihrem Protzzaun verschwunden, und ich stehe unentschlossen mitten auf der Straße herum.


Mit reichen Leuten legt man sich in Kambodscha nicht an. Das gilt sicher auch für andere Länder, aber hier höre ich das dauernd. Deshalb beschwert sich niemand, wenn nächtens der Partylärm aus der Luxusvilla den Schlaf vertreibt oder der Riesenwagen davor stundenlang vor sich hinhupt. Leute mit Geld sind Leute mit Macht sind Leute mit Einfluss sind Leute mit Verbindungen und an sich und meistens und immer und überall: immun, unangreifbar, unverfolgbar, sicher. Da kann man nichts machen. “Sagt wer?” denke ich. Meine Tollwut-Prophylaxe wird mir ermöglichen, mit den Herrchen und Frauchen der bissigen Monster einen Rechtsstaat-Diskurs im Schnelldurchlauf zu veranstalten, bevor ich tot umfalle.


Vor dem barocken Tor steht ein großes Auto mit getönten Scheiben, der Motor läuft, und jemand traut sich nicht auszusteigen, als ich ans Fenster klopfe. “Do you speak English?” schalle ich gegen das schwarze Glas. Wahrscheinlich scheitere ich jetzt an der Sprache, weil sich alle unverständig-doof-unzuständig stellen werden – aber einen Versuch ist es wert. Auf meinen Regenschirm gestützt, von deutschem Gerechtigkeitssinn durchflutet, nur abgemildert durch die Kapitel 1-Buddhismus-Leseerfahrung, transformiere ich vom touristischen Hundebissopfer zu einer Lektorin über Schadensrecht für Erstsemester. Und dann läuft ein erstaunlicher Mechanismus ab. Ein Mopedfahrer (in Kambodscha ersetzen sie die Taxifahrer) rollt heran, weil er ein Geschäft wittert – und er kann englisch. Mit seiner Sprach-Unterstützung verlange ich, die “Verantwortlichen” zu sprechen. Die Autotür bleibt geschlossen. Hinter dem Gartentor tut sich Bewegung.


Dann rollt sie schließlich heraus, die Dame des Hauses – wenn ich mal so sagen darf –, und sie hat genau die Stimme, die ich so gar nicht abkann in dieser Sprache, sehr laut, sehr schrill, in der Tonlage ihren Hunden sehr ähnlich. Sie trägt einen rosafarbenen Hosenanzug, der offenbar in der letzten Wäsche erheblich eingelaufen ist. Es speckrollt sichtbar von den Schultern abwärts, und die prallen Waden sind gänzlich unbehost. Von Ersatz für meine kaputte Hose und Erstattung von Arztkosten will sie zunächst nichts wissen. (Ich würde mich auch mit einer Entschuldigung und einer Einladung zu einer Tasse Tee begnügt haben ...) Und natürlich wird sie mir ihren Namen nicht sagen, und eine Telefonnummer hat sie auch nicht. Ich zeige auf das Handy in ihrer Hand: Wie wäre es mit der Nummer? Ich würde nämlich gern mit “der Polizei” über “die wilden Hunde” reden. Jetzt wird sie richtig sauer. Ihr Mann – so lässt sie mich durch unseren Übersetzer wissen – sei ein “hochrangiger Polizeibeamter” in Phnom Penh! Lady, damit kann man mir keine Angst machen: Prima, kontere ich, ich arbeitete ja auch “für die Regierung” in Phnom Penh, da würde ich doch ihren Mann gern einmal kennen lernen. Das Geschrille geht noch etwas hin und her, und eigentlich bin ich nur noch dabei, weil ich keine Lust habe, mich um meine Bisswunde zu kümmern. Erstaunlicherweise sagt dann der Mopedfahrer: “Steig auf, wir fahren zum Arzt, sie zahlt alles.” Ich sehe mich plötzlich ins Reisfeld gekarrt und dort hinterrücks erschossen, von einem hochrangigen Polizeibeamten aus Phnom Penh. Aber statt dessen halten wir vor einer Apotheke.


Der müde, ältere Apotheker will mal in einem Krankenhaus gearbeitet haben. Er kramt aus seinem Kühlschrank eine kleine Ampulle heraus, die rundherum gut sichtbar, aber für mich unverständlich auf vietnamesisch beschriftet ist. “05-2007” steht da unter anderem, Preisfrage: Produktions- oder Verfallsdatum? Der Apotheker-Arzt guckt mich ausdruckslos an – ich solle mir doch in Phnom Penh eine Spritze geben lassen, oder am besten gleich sieben oder acht. Er wisse ja auch nichts, und einen Beipackzettel gebe es in Kambodscha nie – wir Ausländer hätten da völlig falsche Vorstellungen. Ich solle mich erst einmal ausschlafen – er zeigt auf eine Liege. Inzwischen ist noch ein Moped angekommen: Der hochrangige Polizeibeamte hat es tatsächlich in zehn Minuten von Phnom Penh bis hierher geschafft - und welch ein Wunder, in einer senffarbenen, frisch gebügelten Uniform. Er knurrt etwas im Hintergrund mit seiner Frau herum, dann übersetzt “mein” Motofahrer: letztes Angebot – 35 Dollar und ich könne mir einen Arzt meiner Wahl in Phnom Penh suchen! Ich zocke noch ein bisschen (das sei doch alles viel teurer in Phnom Penh – und die Hose ...), aber man darf den Bogen nicht überspannen. Lieber 35 Dollar als ein Tod im Reisfeld. Und so stehe ich mit drei Scheinen wieder auf der Straße und staune: 50.000 Riel sind ungefähr 12 Dollar, und davon habe ich jetzt drei, sogar echte und ganz neu mit Wasserzeichen und Metallstreifen drin! Der Motofahrer will jetzt natürlich von mir bezahlt werden, denn Madame ist mit ihrem hochrangigen Polizeibeamten längst davongefahren. ...


Unerwartet treffe ich beim Abendessen Entwicklungszusammenarbeits-kollegen (ja ja – wir leisten “Zusammenarbeit” in der Entwicklung, Hilfe ist out), die mich überzeugen, dass ich leichtsinniges Wesen doch wirklich eine Tollwut-Spritze bräuchte, und die mich sofort zu einem “richtigen” Arzt bringen. Der lässt mich auch den Waschzettel des Medikaments studieren (vietnamesisch und englisch). Dahin geht der erste 50.000-Riel-Schein – und als ich die Ampulle sehe mit der gleichen vietnamesischen Beschriftung wie die vor ein paar Stunden, bloß mit dem Aufdruck “2008”, da weiß ich, dass die Apotheker-Ampulle ein wenig überlagert war. Sie wartet jetzt wahrscheinlich auf einen armen Khmer, der sich ein Nachdenken über “Impfung ja-nein” nicht leisten kann. Meine Entwicklungszusammenarbeits-kollegen haben genau wie ich vorher noch keinen 50.000-Riel-Schein gesehen – und ich bin mächtig stolz, dass ich nach hiesigen Verhältnissen einen enormen Schadensersatz erhalten habe, denn kambodschanische Monatsgehälter um die 40 Dollar sind vergleichsweise hoch (für Wachleute und Haushälterinnen).


Anicca lacht und lässt es über Nacht mal wieder heftig regnen. Ich gehe zum Frühstück in die Sonne und blicke auf den Fluss, und der zieht träge vorbei, und der Himmel ist erst blau, und dann sind die Wolken zurück, das Frühstück ist wunderbar, und bald ist der Teller leer – und als ich das Lokal verlasse, ist das Portemonnaie weg und die beiden niegel-nagel-neuen Rielscheine und das restliche Kleingeld auch. Leider war im Portemonnaie auch der Wohnungsschlüssel. Aber als ich wieder daheim bin, lassen meine guten Hausgeister ihn erneut werden: Sie beschaffen mir Ersatz ganz unkompliziert, für einen Dollar. Und plötzlich ist meine gute Laune wieder da und “Constitution Day” bereits vergangen.


Nachtrag: Natürlich gehe ich am nächsten Morgen in Phnom Penh noch einmal zum Arzt, Kostenpunkt: 47 Dollar. Denn ich brauche eine zweite Tollwut-Spritze. Der Impfstoff, der mir in Kampot verabreicht worden ist, soll in Vietnam ab 2008 (!) vom Markt genommen werden, weil seit ein paar Monaten (!) ein Patient nach der Verabreichung des Mittels in Ho Chi Minh-Stadt paralysiert (!) im Krankenhaus liegt.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 26. September 2007.


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