Ein Ausflug in die Vororte von Phnom Penh

Mai 2008.


Ein Ausflug in die Vororte von Phnom Penh.
Die Müllhalde von Stung Mean Chey.





Mit meinem Tuk-Tuk-Fahrer, Herrn Thi, habe ich über die Monate ein Ritual entwickelt: Wir machen gemeinsam regelmäßige Wochenend-Ausflüge in die unmittelbare Umgebung von Phnom Penh. Meist sind das Orte, die Herr Thi noch nie gesehen hat und über die ich auch recht wenig weiß. Für uns beide gibt es bei diesen kleinen Reisen oft überraschende Momente, doch selten Enttäuschungen, weil ich Herrn Thi inzwischen erfolgreich überzeugt habe, dass er einfach mal nach dem Weg fragen kann und dass das keine Schande ist. Und so kommen wir zumeist ohne längere Umleitung am Ort unserer Wahl an.


Das Wochenend-Ritual läuft gewöhnlich so ab: Am Freitagnachmittag schickt mir Herr Thi per SMS seine Anfrage, diskret verpackt. "good morning mrs hov are you today? are you working dismorning? thanks see you soon" Ich texte zurück: Ob er mich vielleicht am Sonnabend um 9 Uhr von zu Hause abholen könne? Dann erreicht mich in Windeseile seine Antwort: "noprvlem", womit gemeint ist, dass er das natürlich unproblematisch einrichten könne. Ich weiß inzwischen: Er bringt seine Frau gegen 8 Uhr in die Textilfabrik und ist danach frei.


In diesem Mai hat es erstaunlich wenig geregnet, deshalb begeben wir uns weiterhin auf staubige Straßen. Doch diesmal wird es nicht nur ein staubiger Ausflug, denn ich will mir einen Ort angucken, der normalerweise nicht auf der touristischen Agenda steht: die Müllkippe von Stung Mean Chey, vor den Toren der Stadt. Dafür gibt es einen aktuellen Anlass: Phnom Penh stinkt in den Mai-Himmel, noch mehr als üblich. Wir haben Verhältnisse wie in Neapel. Allerdings scheinen die Ursachen weniger mafiöser Natur zu sein, aber wer kann das schon wissen. Jedenfalls ist der Gouverneur von Phnom Penh sauer auf den privaten Stadtreiniger Cintri. Es stinkt ihm im Sinne des Wortes, und er droht der Firma, dass Angestellte der Stadtverwaltung eingesammelte Abfälle auf dem schmucken Cintri-Firmenrasen zwischenlagern würden, wenn nicht sofort etwas passierte. Das Ultimatum läuft am 23. Mai ab.


Cintri schloss mit der Stadtverwaltung im Jahr 2002 einen Vertrag für den Zeitraum von 49 Jahren, mit dem Inhalt, 90 % des städtischen Mülls zu beseitigen. (Die Vertragsdauer kommt mir außergewöhnlich lang vor - doch sollte ich sie als positives Zeichen deuten: als Beweis für das Vertrauen in die Beständigkeit des hauptstädtischen Lebens, die Effizienz der Stadtverwaltung und die Effektivität der Privatwirtschaft.) Doch seit Vertragsbeginn ist zwischen Stadt und Stadtreinigung ungeklärt, in wessen Verantwortungsbereich die Müllkippe und die Zufahrtswege fallen. Ein Entwicklungshelferkollege erzählte mir, dass vor ungefähr zehn Jahren kambodschanische Abfallexperten in Deutschland ausgebildet worden seien. Denn Müll ist ja nicht gleich Müll, vielmehr eine wahre Wissenschaft, was wir spätestens mit der Einführung des grünen Punktes und der gelben Tonne gelernt haben. Nach Rückkehr in ihre Heimat sollten diese Experten sich auch um die Mülldeponien von Phnom Penh kümmern. Doch was der Cintri-Geschäftsführer über den Zustand der Abfalldeponie zu sagen hat, klingt nicht nach Entwicklungshilfeerfolg: Die Deponie entspreche nicht internationalen Standards. So seien die Zufahrtsstraßen so uneben, dass regelmäßig Müllfahrzeuge umkippten, während andere sich platte Reifen holten wegen des hohen Anteils an "Altmetall auf den Straßen". Was der Cintri-Geschäftsführer nicht erwähnt, sind die Menschen, die den Abfall ihren Arbeitsinhalt und die Mülldeponie ihren Arbeitsplatz und ihr Zuhause nennen.


Schon morgens schrecken sie mich aus dem Schlaf: die Lumpensammler von Phnom Penh. Denn tatsächlich gibt es hier ein Mülltrennungssystem, wenn auch rudimentär; Flaschen, Dosen und Papier werden gesondert eingesammelt. Einzeln ziehen sie mit ihren Holzkarren durch die Straßen und machen auf sich aufmerksam mit einem speziellen Lumpensammler-Erkennungston. Der wird mit einer Plastikflasche produziert, die, zwei- bis dreimal zusammengedrückt, Laute hervorbringt wie ein gelbes Badewannen-Quietsche-Entchen, bloß viel eindringlicher. Im Karren wird alles transportiert, was man für den Tag braucht: ein Getränk, eine Plastiktüte mit bereits gekochtem Reis, ein Schweißtuch, eine Waage für das Gewicht des Sammelgutes, schließlich das Sammelgut selbst. Es sind viele Frauen unterwegs, manche haben ihr Kind in den Karren gesetzt. Einer dieser kleinen Schmutzfinken streckt mir strahlend die Plastikpuppe entgegen, die die Mama wohl aus dem Müll gefischt hat. Die Puppe hat blonde Locken und blaue Augen und wird nach der Vorzeigeaktion sofort wieder von ihrer kleinen Puppenmutter fest an die Brust gedrückt. Glück ist eine Puppe im Arm und eine Mama in der Nähe ...


Herr Thi muss mehrmals nach dem Weg zur Müllhalde fragen. Plötzlich sind wir da - kein Zaun, keine Mauer, keine Einlasskontrolle. Wo sich die ungeplasterte Straße leicht anhebt, hinter einfachen Häusern und Holzhütten, erstreckt sich die Müllkippe: so weit das Auge reicht - eine hügelige Landschaft aus alten Plastiktüten - farbenfrohe Fetzen und graue Masse, Undefinierbares, baumlos, aber sehr lebendig - auf dem Müll wird gelebt. Ich verlasse meinen bequemen Platz hinter Herrn Thi und laufe den Weg hinauf. Wie ein Eindringling fühle ich mich und wie ein Voyeur. Ein Junge, dessen Alter ich nicht schätzen kann, hockt am Boden und zieht mit einem Metallgegenstand aus einem Holzbrett Nägel, die er neben sich aufreiht. Zwei Männer in Gummistiefeln und Topfhüten grinsen mich an. Sie stehen an einem Wägelchen, einem Verkaufsstand auf Rädern, hinter dem ein dicker Khmer Sirup auf klein gestoßenes Eis tropfen lässt: Er ist der Eismann der Müllkippe. Ein paar Meter weiter brät eine Frau Nudeln auf einer kleinen Pfanne, es ist Mittag. Zwei nackte kleine Jungen gucken mich fast ängstlich an und klammern sich aneinander, der eine ballt die linke Faust um einen gelben Keks. Den Weg hinauf ziehen Karren mit Sammelgut. Dann rumpelt ganz langsam, eine große Staubwolke hinter sich lassend, ein grüner Cintri-Müllwagen an mir vorbei. Hoffentlich kippt er nicht um. In einer Holzhütte, eigentlich einem Bretterboden auf Stelzen mit einem Wellblechdach darüber, ohne Wände, sitzen zwei alte Frauen und beobachten mich mit ausdruckslosen Gesichtern.


Und überall wuseln Menschen herum, die Teile der Deponie umschichten, umdrehen, umpflügen, manchmal mit Schaufeln, Latten oder Metallstangen, manchmal mit bloßen Händen. Nach welchem System der Müll hier "bearbeitet" wird (wenn denn der Aysdruck "Bearbeitung" überhaupt zutrifft), erschließt sich mir nicht. Was ich aber deutlich erkennen kann: Es wird gearbeitet.


Inzwischen hat sich der Himmel zugezogen. Die graue Landschaft wirkt noch grauer. Es regnet bald in feinen Tropfen, niemand außer mir scheint das wahrzunehmen. Ich habe einen guten Grund, zu Herrn This Tuk-Tuk zurückzulaufen. Der Weg ist bald feucht und glitschig, keine schöne Vorstellung, hier auszurutschen. Ich achte sorgfältig darauf, wohin ich die Füße setze. So fällt mein Auge auf ein chinesisches Schriftzeichen, aufgedruckt auf etwas, das früher vielleicht einmal ein Sack war. Das Zeichen ist das einzig für mich Entzifferbare, Verstehbare in der großen Dekonstruktion um mich herum. Es heißt "xiāng", 香, auf deutsch "Duft". Ja, erstaunlich - gestunken hat es hier nicht. Oder habe ich einfach nicht aufgepasst?


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 11. Juni 2008.


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