Mein chinesisches Kambodscha

November 2008.


Mein chinesisches Kambodscha.
Das Fremde im Vertrauten und das Vertraute im Fremden.





Es war nicht geplant, sondern ergab sich eher zufällig: Den halben Monat November verbrachte ich in China, auf zwei kleinen wunderbaren Reisen nach Shanghai und nach Hong Kong. Wieder zurück in meiner kambodschanischen Welt aus Zuckerpalmen, Reisfeldern und Hummer-Jeeps entdecke ich plötzlich ein Land voller Attribute aus dem Reich der Mitte. Gehört Kambodscha inzwischen zur großen chinesischen Diaspora-Familie? Und weiß es bloß noch nicht?


Am Independence Monument stehen Mitte November nur noch die riesigen leeren Rahmen, die dort zu des Königs Vaters Geburtstag am 31. Oktober aufgebaut waren und einen überlebensgroßen Sihanouk in landesväterlicher Pose zeigten. Nun sind diese Bildnisse verschwunden. Ist Raum geschaffen für neue Herrscherportraits? Es macht mich nachdenklich, als ich die chinesischen Flaggen betrachte, die beschützend über den Rahmen flattern. Zeichen für eine neue Ära?


Angeblich sind nur 1% der kambodschanischen Bevölkerung von 14 ½ Mio. ethnische Chinesen (sog. Sino-Khmer). Dafür ist ihr überall sichtlicher Einfluss bemerkenswert. Die Beziehungen zwischen dem Königreich der Wasserschlangen und dem Kaiserreich der Mitte sind alt. Von Zhōu Dá Guān 周达观, der das Land im Auftrag seines Kaisers um 1296 n.Chr. bereiste, habe ich schon berichtet. Und er war bei weitem nicht der erste Besucher. Seit Jahrhunderten wanderten Chinesen aus ihren unterschiedlichen Heimatprovinzen nach Kambodscha ein. Alle kamen sie, um sich kürzer oder länger hier aufzuhalten, weil sie damit der Armut entflohen, weil sie politisch verfolgt waren, aus der unfriedlichen Heimat flüchten mussten oder einfach nur Handel treiben wollten.


Aus meinen schlauen Büchern und aus diversen Gesprächen mit Kambodschanern weiß ich einiges über diese chinesischen Volksgruppen, die Teochiu (cháozhōu -- 潮洲), die Kantonesen (guăngdōng -- 广东), die Hokkien (fújiàn -- 福建), die Hakka (kèjiā -- 客家) und die Chinesen von der Insel Hainan (hăinán -- 海南). Manche sind "khmerisiert", andere haben trotz Zeitablauf und Verfolgung ihre Sprache und Kultur aufrechterhalten. Wenn man wie ich regelmäßig "beim Chinesen" speist, könnte man in Phnom Penh denken, man sei in China, so viel Chinesisch wird in diesen Lokalitäten gesprochen.


In diesem Jahr wurde chinesisch bescheiden und ohne allzu großen Trommelwirbel das 50jährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen gefeiert. Man hatte es ja nicht immer einfach miteinander. Erinnert sei an die Widersprüchlichkeiten der jüngsten Geschichte, als die Volksrepublik die Roten Khmer mit Waffen, Geld und Militärberatern unterstützte, während Sino-Khmer in der kambodschanischen Heimat wegen ihrer Sprache (es war verboten, andere Sprachen als Khmer zu sprechen), ihrer Bildung (jede/r mit höherem Schulabschluss war suspekt) oder ihrer "falschen" Klassenzugehörigkeit (auch der kleinste Händler war ein Kapitalist) "liquidiert" wurden. Chinesische Schulen waren von 1970 bis Anfang der 1990er Jahre überall geschlossen, jetzt hat allein die Duān Huá Schule 端华学校 (gegründet 1907) wieder 10.000 Schüler.


In einem französischen Stadtplan aus den 1930er Jahren fand ich die verschiedenen Quartiere von Phnom Penh verzeichnet, in denen die Einwohner getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit lebten: die Franzosen, die Khmer (Kambodschaner), die Annamiten (Vietnamesen) und die Chinesen. Letztere wohnten in den Straßen am Phsar Thmei, dem von den Franzosen 1936 erbauten zentralen Markt. Ein Chinatown, wie es andere Städte weltweit kennen, hat Phnom Penh heute jedoch nicht mehr. Chinesisches findet sich überall, als Teil des kambodschanischen Alltags. Manchen Kambodschanern ist das zuviel, wie sie mir sagen - genau so zuviel wie die Präsenz von ethnischen Vietnamesen im Land und die Bedrohung durch thailändisches Militär an der Nordgrenze. Hinter ihrem freundlichen Lächeln verbergen sie ein gerüttelt Maß an Fremdenfeindlichkeit, und zwischen Arroganz und Unterwürfigkeit gegenüber mir "Barang" (westlicher Ausländer) versteckt sich viel Unwissen: So lässt sich am Schnitt ihrer Augen und der Farbe ihrer Haut erkennen, dass ihr Erbgut mehr enthält als "reine" Khmer-Gene (was immer das sein mag).


An vielen Geschäften in Phnom Penh, aber auch in den anderen Städten, steht der Name zwei-, manchmal sogar dreisprachig: in der kambodschanischen Nudelschrift, den chinesischen Schriftzeichen und auf englisch, manchmal sogar noch auf französisch. Der rot beleuchtete Hausaltar für die Dao-Götter des Reichtums und des langen Lebens hat seinen Platz nicht nur im China-Restaurant oder im Salon für chinesische Fußmassage, sondern in jedem Hotel, jedem Geschäft und fast in jedem städtischen Haushalt. Es gibt sogar Läden, die auschließlich diese Altäre verkaufen und offenbar davon leben können, während draußen selbstverständlicherweise ein Geisterhäuschen der Naturgottheiten für Schutz sorgt.


In Phnom Penh erscheinen drei Tageszeitungen in chinesischer Sprache, teilweise in komplizierten Langzeichen, wie noch in Taiwan gebräuchlich, teilweise in Kurzzeichen mit weniger Strichen, die Mao Zedong in der Volksrepublik in den 1950er Jahren eingeführt hat. Ein chinesischer Freund, der als Journalist für eine dieser Zeitungen arbeitet, sagte mir, dass ohne die chinesischen Wirtschaftsbosse in Kambodscha nichts funktionieren würde. Das ist vielleicht etwas übertrieben. Sicher ist, dass die chinesische Präsenz in der kambodschanischen Wirtschaft, so wenig sichtbar sie auch dem ungeübten Auge sein mag, den Staat stützt, mit oder ohne Anti-Korruptionsgesetz (das seit vierzehn Jahren als Entwurf in der Schublade überlebt und angeblich bis zum Ende der jetztigen Legislaturperiode 2013 verabschiedet sein soll), und den chinesischen Einfluss in der Region stärkt (milde ausgedrückt).


Die beiden größten Schreibwarenläden, von Sino-Khmer geführt, verkaufen auch Bücher, und natürlich gehört dazu eine Abteilung mit chinesischer Literatur, Koch- und Schulbüchern und den neuerdings in China sehr populären Ratgebern für alle Lebenslagen, insbesondere für Selbständige ("Wie spare ich Steuern, wie werbe ich effektiv und kostengünstig, wie vermeide ich hohe Gehälter und versichere mich dennoch totaler Loyalität und Dankbarkeit meiner Angestellten und ihrer Familien?"). Dass gerade einer der Buchläden eine riesige Filiale gegenüber dem Parlament eröffnet hat, finde ich bemerkenswert. Mir wurde zugetragen, dass Abgeordnete gar nicht lesen könnten. Das kann wohl nicht richtig sein, denn chinesische Geschäftsleute rechnen vor jeder Investition. Und das tut auch der chinesische Staat. Während die internationale (westliche) Gebergemeinschaft sich darauf verstieg, dem kambodschanischen Staat für 2009 fast 1 Milliarde US$ an Entwicklungshilfe zuzusagen (das Geschenk des neuen US-Präsidenten steht noch aus), versprach China zwar 215 Mio. US$, allerdings den Löwenanteil (207,7 Mio. US$) als Darlehen für Infrastrukturprojekte, die von chinesischen Firmen durchgeführt werden.


Ein Infrastrukturprojekt ganz eigener Art ist das chinesische Sarggeschäft am Sisowath Quai, das man nicht verfehlen kann, denn häufig steht ein bunt bemalter Sargwagen davor. Hier gibt es kunstvoll verzierte und einfach gedrechselte Holzsärge für die Ewigkeit. Während die meisten Kambodschaner Anhänger des Theravada-Buddhismus sind und ihre Toten in der Pagode einäschern lassen, wo die Asche in Urnen aufbewahrt wird, sind chinesischstämmige Kambodschaner in der Regel Mahayana-Buddhisten, die Erdbegräbnisse vorziehen: Sie wollen im Stück vor ihrem Totengott Yama erscheinen. Chinesische Friedhöfe sind leicht an ihren Grabhügeln und bunt geschmückten Gräbern zu erkennen. Ich habe in diesem Jahr am 4. April, zum Totenfest Qíng Míng 清明节, einen Ausflug dorthin gemacht. Die Familien, ausgerüstet mit Speis und Trank für sich und die Ahnen, verschönerten am einen Ende die Grabhügel mit bunten Papierfähnchen, während in gebührlicher Entfernung am anderen Ende eine Schar klapperiger weißer Kühe bereits dabei war, die Papierfähnchen abzuräumen, "durch sieben Mägen sollst du geh'n". Man ließ sie.


Viele der chinesischen Feiertage, die im Ursprungsland an Bedeutung verloren haben oder schon ganz vergessen sind, haben hier noch glühende Anhänger. Im Januar wird in Kambodscha nicht nur das Neujahrsfest mit Löwentänzen und Feuerwerk aufwarten - da wird auch an den Küchengott (灶神 Zào Shén) gedacht. Mit dem muss man sich gut stellen. Denn der wacht ein ganzes Jahr lang über das familiäre Wohlergehen. Bevor das (chinesische) Jahr vorüber ist, wird er seinen Platz am Herd verlassen und dem Jadekaiser im Himmel berichten, was in der Familie vorgefallen ist. Er ist also eine echte Petze, und es hängt an ihm und seiner Berichterstattung, ob der Jadekaiser Gaben oder Strafe mit ihm zurück zur Erde schickt. Was liegt da näher, als ihm den Mund zu verschließen, vorsichtshalber. Das macht man am besten mit Naschwerk: je süßer und klebriger, um so besser. Vor lauter Karamell, das man ihm am 23. Tag des 12. Mondmonats auf seinem Herdaltar opfert, bekommt der Küchengott beim Jadekaiser die Zähne nicht mehr auseinander - und kann nichts ausplaudern. Das zeigt uns eine ziemlich unverschnörkelte Familien-Selbsteinschätzung - und dafür sind Chinesen ja hier und anderswo (mal abgesehen von ihrer Abergläubigkeit) bekannt.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 25. Dezember 2008.


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