Unruhe um ein Weltkulturerbe

Juli 2008.


Unruhe um ein Weltkulturerbe.
Empfindlichkeiten und die langen Schatten der Vergangenheit.





Den halben Juli verbrachte ich in der deutschen Heimat, um die Wahrheit um die Wahrsagerinnen Kambodschas ans Licht zu bringen. Dort stellte sich schon bald heraus: Die mir diesbezüglich im Juni erbrachte Arbeitsleistung liegt im Bereich "zufriedenstellend", die Vorhersage war zu 75 % richtig und zu 25 % falsch – denn ich werde nicht das nächste Jahr in Kambodscha verbringen, sondern bereits als Aprilscherz 2009 auf brandenburgischem Boden aufschlagen, will sagen: aus der S-Bahn treten. Soviel dazu.


Jetzt sitze ich wieder in meinem betreuten Wohnen in Phnom Penh, das hier "serviced apartment" heißt und für faule, also beruflich übermäßig eingespannte oder sich dafür haltende Ausländer/innen wie mich Putz- und Bügeldienste, täglich mehr oder weniger saubere Handtücher und – je nach Portemonnaie – Frühstück aufs Zimmer und frisch gewaschene Unterhosen bereit stellt. Außerdem gibt es für Sicherheitsfetischisten sogenannte Wachleute am Eingang, zarte Jüngelchen in schmucker Uniform und übergroßen Stiefeln (oft zu heiß tagsüber und daher gern gegen Badelatschen ausgetauscht), die zumeist jedem, der durchs Tor hineinschlüpft, freundlich zulächeln. In so einer Luxus-Hochburg sitze ich also des Abends, während draußen Regenzeit gegeben wird, und grusele mich beim Zeitunglesen: Seit einer Woche zieren Fotos von bis an die Zähne bewaffneten Soldaten der RCAF (Royal Cambodian Armed Forces) die erste Seite meiner englischsprachigen Tageszeitung.


In meiner Abwesenheit gab es hier einen unspannenden Wahlkampf (zum Glück lag keine Betonung auf "Kampf") und eine mit Spannung erwartete Entscheidung der Unesco: Die erklärte schließlich am 7. Juli den Tempel Preah Vihear im Norden Kambodschas an der Grenze zu Thailand zum Weltkulturerbe. Und seit dem 15. Juli stehen sich dort thailändische und kambodschanische Militärs angriffsbereit gegenüber – wie kann das sein, frage ich mich mal wieder und zweifele an meiner Fähigkeit, dieses Land und die Beziehungen zu seinen Nachbarn zu verstehen. Ich habe versucht, meine Bücher, Zeitungen und Kollegen als Ratgeber heranzuziehen. Heraus gekommen ist Folgendes, für dessen Richtigkeit ich mich nicht verbürgen kann:


Der Tempel, der heute unter dem Namen "Preah Vihear" bekannt ist, wurde zur Regierungszeit des Khmer-Königs Yasovarman I begonnen (889 bis 910 n.Chr.) und drei Könige später, unter Suryavarman II (Regierungszeit 1113 bis 1145 n.Chr.), beendet. Als die Khmer-Könige ihre Macht verloren hatten und ihr Reich zerfiel, gehörte Preah Vihear zum Einflussbereich der Thai, dann wieder zu dem der Kambodschaner. Aus unerfindlichen Gründen überließen die französischen Kolonialherren den Tempel Anfang der 1950er Jahre den Thais. Aber bereits 1953 reisten sie zurück an die Côte d'Azur, denn Sihanouk hatte die Unabhängigkeit seines Königreichs erklärt und wollte nun selbst bestimmen, über was er da regierte. Auf sein Bestreben hin entschied der Internationale Gerichtshof 1962, dass es kambodschanisches Staatsgebiet sei, auf dem Preah Vihear gebaut sei. Damit, könnte man meinen, hätte es gut sein können. Hat es aber nicht. Denn auch wenn jetzt anerkannt ist, dass Preah Vihear zu Kambodscha gehört, so wird die unmittelbare Umgebung des Tempels in den Dangrek-Bergen weiterhin sowohl von den Khmer als auch von den Thai beansprucht. Überall da, wo es gebirgig ist oder urwaldet, wo viel Wasser herumschwappt oder alles im Sand versinkt – da haben es Grenzvermesser traditionellerweise schwer. Das nördliche Kambodscha hat zu Thailand eine dieser unscharfen Grenzen im unübersichtlichen Grün. In ca. zehn Jahren will die Regierung die 73 Grenzsteine wiedergefunden haben, die irgendwann einmal als Demarkation aufgestellt worden sind – 20 hat sie bisher erst entdeckt. Im Jahr 2000 verständigten sich die kambodschanischen und thailändischen Behörden, dass die Sucherei nach den Grenzsteinen ungestört von Militär stattfinden sollte, will heißen: Kein Uniformierter sollte da oben herumspazieren, es sei denn zum Sonntagsausflug mit der Familie - und in Zivil.


Aber offenbar zieht das Gebiet den Streit der Uniformen an. Die letzten Khmer Rouge-Guerillas harrten hier im Kampf gegen die Regierungstrupppen bis 1997 aus, fast 20 Jahre, nachdem ihr "Demokratisches Kampuchea" genanntes, mörderisches Menschenexperiment zum Scheitern gebracht worden war. Und einige dieser Kämpen sind jetzt auf der Titelseite meiner Tageszeitung und dürfen als Interviewpartner verkünden, dass sie nichts aus ihrer Roten Khmer-Kämpferzeit vergessen hätten, manche ihrer damaligen Waffen seien noch gut einsetzbar - und wie gern sie, jetzt stolze Mitglieder der Königlichen Armee, ihren Thai-Kollegen auf die Mütze hauen würden. Die haben sich in Rufweite der RCAF und Preah Vihear eingegraben, 4.000 sind es nach offizieller kambodschanischer Schätzung, die nichts über die eigene Truppenstärke auszusagen weiß. Bisher blieb es ruhig. Ein Thai-Soldat starb eines "natürlichen Todes", ein anderer verlor durch eine Landmine ein Bein, nichts Derartiges bei den RCAF. Aber in Phnom Penh wird Essen und Geld für die Soldaten "an der Front" gesammelt und Import-Gut aus Thailand boykottiert.


Der Autor der "offiziellen Biografie" vom König-Vater Sihanouk, Julio A. Jeldres, äußert sich erbost in der Zeitung, dass Preah Vihear als "Hindu-Heiligtum" bezeichnet wird. Nein nein, der sei immer ein "Khmer-Tempel" gewesen, bis auf die Zeit seiner Eroberung durch die Thai – eine Zeit, die (man lese und staune) von 1431 bis 1907 andauerte. Der Tempel wurde um 1120 n.Chr. fertig gestellt; so kann man leicht errechnen, dass er ungefähr 870 Jahre alt ist und 476 Jahre nicht unter Khmer-Königsherrschaft stand. Herr Jeldres versteht die Differenz unter "immer", nun ja. Und dieser immer Khmer seiende Tempel wurde von Khmer, die zu dieser Zeit Hindus waren, dem Hindu-Gott Shiva geweiht, was den Tempel damit so sehr zu einem hinduistischen Heiligtum macht, wie der Petersdom eine katholischen Kirche ist. Oder dürfte man den einfach nur als "Gotteshaus des Vatikanstaates" bezeichnen?


Aber man soll ja vorsichtig mit Empfindlichkeiten, gleich welcher Art, sein. Vor allem, wenn man wie ich alles nur unzulänglich aus unsicheren Quellen weiß, behaglich vor Regen und Dschungelungeziefer geschützt ist und weit weg sein darf von dieser umstrittenen Grenze. Doch fürchte ich mich vor Uniformen, auch wenn sie nur auf Fotos in Schwarz-Weiß auf der ersten Seite meiner kambodschanischen Tageszeitung zu sehen sind. Und ich finde, dass sich alle an einem Weltkulturerbe erfreuen dürfen.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 7. August 2008.


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