Der sechste Zeh

Februar 2009.


Der sechste Zeh.
Wenn die Ohrstöpsel ihren Dienst versagen.





Letztens bin ich auf meine Phnom Penhesische Berichterstattung angesprochen worden. Da wollte jemand bemerkt haben, dass meinen Produkten ein durchweg nörgeliger Unterton anhafte. Sehr apodiktisch lautete die Bemerkung: "Irgendwie hast du in Kambodscha dauernd an allem etwas auszusetzen." Kann das sein? Bin ich hier verkommen zu einer Pausenlos-Meckerliese? Und merke das nicht einmal? Oder merke es erst nach Hinweis und in den letzten Aufenthaltstagen? Ich gehe in mich. Tatsächlich, die Kritik ist so unrichtig nicht: Meinem Geschreibsel fehlt es an Begeisterung und an Schwung. Und dafür gibt es Gründe. Zum einen erlahmt mich das Klima, zum anderen bin ich permanent unausgeschlafen; zwei Jahre extrem verkürzter Nachtruhe hinterlassen sichtbare (für andere erkennbare) und unsichtbare (nur für mich fühlbare) Spuren, das Schlafdefizit als Grauschleier über Wahrnehmung und Epidermis – ich fühle mich oft einfach nur sehr, sehr müde.


Dabei habe ich seit über einem Jahr eine zauberhafte Wohnung, überschaubar und praktisch. Das Wohn- und das Schlafzimmer gehen ineinander über, von keiner Tür getrennt, in der Mitte die kleine Küche. Fenster habe ich zu allen vier Seiten. So kann die Sonne zu jeder Tageszeit hereinscheinen, und wenn es weht in Phnom Penh, dann mach' ich Durchzug und find's ganz wunderbar. Bis vor kurzem reichte des Nachbarn Baum fast bis an mein Bett heran; das gab Schatten, und morgens wurde ich von Vogelgezwitscher erfreut. Nun ist der Baum schon lange abgehackt, denn der Nachbar hat gebaut. Ein Blick aus den Fenstern offenbart es: Menschliche Behausungen stoßen hier Backstein an Backstein, Mauer an Mauer und Stacheldraht an Stacheldraht. Das nervt, mich jedenfalls.


Welche Folgen dieses Konzept des "enger Wohnens" hat, war mir beim Einzug in das vermeintliche Paradies nicht klar, und jetzt bin ich zu lethargisch, um ihnen zu entfliehen: Wenn es in der Nachbarschaft lärmt, habe ich kein Rückzugsgebiet, dann sitze ich mittendrin. Und es lärmt häufig. Nur die Mücken scheinen sich anders als bei uns völlig ohne Fluggeräusche zu bewegen - nichts kündigt ihre blutigen Attacken an. Doch wenigstens nachts bin ich vor ihnen unter meinem Moskitonetz geschützt, das leider-leider keinen Akustik-Filter hat. Meine Ohrstöpsel aus der Pestalozzi-Apotheke und das Beste ihrer Art sind gegen kambodschanisches Getöne genauso machtlos. Was da so alles an meinen Nerven sägt, in vielen lauen Tropennächten und während aller Wochenenden, die ich daheim verbringe, ist für mein ruhebedürftiges mitteleuropäisches Gemüt beträchtlich. Ganz am Rande sei bemerkt, dass ein Nachbarkind (von Expats) ein Klavier (ein Klavier!) bekommen hat. Selbstverständlich steht das irgendwo in der Nähe der geöffneten Fenster und wird an allen Wochenenden (wahrscheinlich auch wochentags, aber das entzieht sich meiner akustischen Wahrnehmung) mit Begeisterung benutzt. Eloise, mir graut vor dir! Das Klavier hätte auch gleich neben meinem Frühstücksei stehen können, der Effekt ist der gleiche.


Die regelmäßig anwesende Geräuschkulisse speist sich u.a. aus den folgenden Elementen (abhängig von Tageszeit und buddhistischem Festtagskalender, insofern nicht immer schlafstörend):
- rotzende Nachbarn bei der Morgentoilette auf der Dachterrasse nebenan,
- Generatoren und Klimaanlagen,
- rollige Katzen mit und ohne Begleitung,
- Zikaden und Geckos und Springbrunnen,
- plantschende Kinder am Swimmingpool,
- Wachpersonal beim nächtlichen Kartenspiel (man spielt um Geld),
- Mönchsgesänge über Lautsprecheranlage,
- Baustellen-Leben (Bohrmaschinen und Vorschlaghammer),
- gemüseputzende Hausmädchen auf den Nachbarveranden,
- Lumpensammler (mit kleinen Tröten)
- Eisverkäufer (mit Melodien vom Band),
- Hochzeits- und Trauerfeier-Kapellen sowie Discobässe.
Während manche in der Nachbarschaft schon aus dem Bett hüpfen, bevor die Sonne sichtbar ist, gehen andere dann erst schlafen. Wie beim richtigen Berliner Sommer, bloß übers ganze Jahr verteilt.


Anfang des Monats machte ich eine Landparty. Ich verbrachte eine wunderbare Woche in Siem Reap in einem gemütlichen Holzhaus, außerhalb der Stadt – und ich konnte wieder nicht gut schlafen. Ganz offensichtlich war mein Schlafzimmer umzingelt von einer Bande geschwätziger, nachtaktiver Hähne und albtraumgeplagter Hunde, die entweder nicht ruhen wollten oder nicht konnten und mir gemeinerweise auch keine Verschnaufpause gönnten. Nun passieren einem ja ganz merkwürdige Dinge, wenn der Körper sich über längere Zeit nicht in ausreichende Ruhestellung begeben kann. Zum Glück habe ich den Kamm noch nicht in die Butter gelegt, und der Büroschlüssel fand seinen Weg noch nicht in den Kühlschrank. Aber ich kann mich auf nichts mehr richtig konzentrieren, denn dauernd fallen mir unaufgefordert Dinge ein, von deren grundsätzlicher, früherer oder gegenwärtiger Existenz ich zunächst absolut überzeugt bin - doch bald plagen mich Zweifel: Erinnere ich mich nun korrekt, wie hieß der Dings doch gerade, oder ist das alles ohnehin Mumpitz? Und schließlich beschäftigt mich nur das; völlig außen vor bleibt die Frage: Müssen wir das jetzt eigentlich wissen? Wen interessiert das wirklich? Um das einschätzen zu können, bin ich nicht wach genug und lasse es einfach bleiben. So war das eben mit dem sechsten Zeh und den fünf Köpfen. Die Erinnerung geht so: Es gibt bei den Khmer-Tempeln von Angkor ein Pferd mit fünf Köpfen und eine Apsara mit sechs Zehen. Es gibt sie, weil ich sie bei meinem ersten Besuch dort im Jahr 2001 gesehen haben will. Habe ich oder habe ich nicht? Als ich die Apsara mit dem ungewöhnlich bestückten Fuß finde, bin ich erleichtert. Hier hat die Erinnerung bei unausgeschlafenem Verstand doch noch funktioniert. Schnell wird der sechste Zeh, den kein Reiseführer erwähnt, fotografiert, als Gedächtnisunterstützung für eine spätere Grübelei. Aber werde ich wissen, wo ich das Foto hingepackt habe ...


Kambodschaner haben diese allen Asiaten eigene wunderbare Fähigkeit - sie können überall in tiefen Schlaf versinken. Da strecken sich die Mopedfahrer lang auf ihrem Fahrzeug aus und können ihre Plastklatschen sogar noch im Traum jonglieren. Da lehnen die Bauarbeiter an der soeben hoch gezogenen Mauer und dösen, und meine Rechnungsprüferkolleg/innen lassen einfach den Kopf auf die Tischplatte sinken. Die Glücklichen! Immerhin – nicht für alles Akustische wünsche ich mir eine beschützende Taubheit. Meine liebsten Geräusche werde ich nicht mehr hören können in den nächsten Wochen, doch mögen sie mich als Erinnerung in Schlaf und Traum begleiten, wenn ich mich wieder in der Nähe der Pestalozzi-Apotheke betten werde: das Dauer-Trommeln des Monsunregens auf dem Dach und das Grummeln des Donners in der Ferne.


Helga aus dem Königreich der Khmer.
Phnom Penh, 10. Februar 2009.


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